In multimedialen Werken vermischt Laure Prouvost lustvoll Fiktion und Wirklichkeit. Jetzt überschreitet sie die nächste Grenze und überlässt ihren neuesten Film einem Quantencomputer. Das Resultat des Experiments ist in Berlin zu sehen
Von
20.03.2025
Man kann sagen, dass Prouvost sehr gut auf ihr Experiment vorbereitet ist. Und dennoch beschleichen sie an diesem Tag in ihrem Brüsseler Studio gemischte Gefühle bei dem Gedanken, ihr Werk in die Welt der Quanten zu entlassen: „Ich werde meinen Final Cut nach Santa Barbara schicken. Der Computer dort wird ihn verarbeiten und dabei durch das Quantenrauschen neue Bilder erzeugen, die nicht meine sind und die dann in Zufallsmomenten in den Sequenzen auftauchen.“ Dass dieser letzte Schritt im Werk außerhalb ihres Einflussbereichs liege, sei einerseits fürchterlich für sie: „Ich meine, Computer sind supersmart, aber es fehlt ihnen das Bewusstsein, das wir Menschen haben“, sagt sie mit einem Lachen. Andererseits mag sie das Gefühl des Kontrollverlusts, das jede Kooperation bei der Umsetzung eines Werks zwangsläufig mit sich bringt.
Es gibt wohl niemanden, der richtiger wäre für diesen Schritt, für diesen Moment, als die 1978 im nordfranzösischen Croix geborene Künstlerin, deren Karriereweg um 2008/2009 in der Londoner Experimentalfilmszene begann und die seither die Grenzen dieses Mediums beharrlich aufgesprengt hat. Schon ihr Frühwerk „Monolog“ (2009) ist in Wahrheit ein Bemühen um Dialog: In dem Zwölfminüter sieht man von der Künstlerin nur den Oberkörper und gestikulierende Hände, während sie sich bei ihrem Publikum ausführlich dafür entschuldigt, dass das Bild so eng begrenzt ist, und auch besorgt nachfragt, ob den Zuschauenden kalt sei. Zur Sicherheit wird für eine Sekunde ein knisterndes Kaminfeuer in die Handlung geschnitten. Eine Geste der Wärme, deren Erwiderung zwangsläufig an der Leinwand des Zuschauerraums scheitert.
Bei ihrem Werk „Wantee“, mit dem sie 2013 überraschend den Turner Prize gewann, vollzog sie dann erstmals den Schritt vom projizierten Video zur umfassenden Rauminstallation. Zentrales Element von „Wantee“ ist erneut ein Film, in dem Laure Prouvost – wieder als kopflose Gestalt – die Kamera durch ein verlassenes Haus schwenkt und dabei die Geschichte ihres Großvaters erzählt, der als Konzeptkünstler eines Tages in seinem letzten Werk verschwand: einem Tunnel, den er von seinem Wohnzimmer bis nach Afrika graben wollte. Diese unglaubwürdige, aber mit vollem Ernst vorgetragene Erzählung reicherte die Künstlerin mit Objekten im Ausstellungsraum an. Das Publikum nahm auf altmodischen Holzstühlen vor einem Tisch Platz, auf dem sich selbst getöpfertes Teegeschirr ihres Großvaters wie Beweismittel drängelte. „Wenn ich Dinge in die Ausstellung bringe, dann ist es, als ob ich sage: ,Diese Geschichte ist wahr. Du sitzt auf ihr. Du sitzt auf Großmutters Stuhl! Ich erzähle dir keinen Bullshit‘“, erklärt sie.
In ihrem nahtlosen Verschmelzen von Fiktion und Wirklichkeit haben die Rauminszenierungen von Laure Prouvost etwas ungemein Reizvolles – und Überraschendes. Nicht selten tauchen Lieblingsmotive in unterschiedlichen Formen auf: So können uns die roten Himbeeren und Erdbeeren, die im Film „Swallow“ (2013) von einem Fisch in einem paradiesischen Teich angeknabbert werden, als reale Früchte im Ausstellungsraum auf einem Stein liegend wiederbegegnen. Und der Oktopus, der auf einem Gemälde mit seinen Tentakelarmen zärtlich eine Menschenfigur umschlingt, kann genauso gut als Bronzeskulptur auf einem Strand erscheinen wie in einem geknüpften Wandteppich oder gegossen in Muranoglas. „Ich nehme keine Hierarchie zwischen den Medien wahr“, sagt Prouvost. Mit Tapisserien hat sie seit frühester Kindheit zu tun, die Geschichte ihrer Familie ist seit Jahrhunderten mit der Textilindustrie Nordfrankreichs verwoben. Auf Glas stieß sie dagegen durch Zufall, erzählt sie: „Ich dachte immer, als Material wäre es zu bling-bling für mich. Doch eines Tages rief mich ein Freund an, als er im Berengo Studio auf Murano arbeitete, und er fragte mich, ob ich dort etwas gegossen haben wollte.“ Da sie damals eine neue Arbeit plante, antwortete sie: „Kannst du mir ein Spiegelei aus Glas machen lassen? Oder eine Avocado?“ Nach der Vorlage von kopierten Bilddateien aus dem Internet gingen die Glasbläser ans Werk. Bald kam eine Sendung: Glas-Spiegelei und Murano-Avocado wurden Teil ihrer Installation „End Her Is Story“ (2017), und sie hat seitdem oft mit Berengo Studio gearbeitet.
In ihrer vielleicht schönsten und sicher heute bekanntesten Ausstellung „Deep See Blue Surrounding You“ im Französischen Pavillon der Venedig-Biennale 2019 kam dann alles zusammen: Glasbrüste als lebensspendende Springbrunnen gegen den Klimawandel. Echte Tauben. Ein filmisches Roadmovie von der Pariser Banlieue bis zu den venezianischen Giardini. Im Film die Sirenenstimme der Künstlerin, die eine Verbindung zu ihrem Publikum herstellen will, das sie in ihre Inszenierung eines magischen Unterwasserreiches gelockt hat. Die Freiheit im Meer. „Auf dem Meer sind die Grenzen noch nicht vollständig kontrolliert“, sagt Prouvost heute. „Wenn wir im Wasser treiben, beginnen unsere Körper zu schweben. Und wir merken, dass wir größer sind, als wir denken. Wir schränken uns unnötig ein. Bei uns muss das Gehirn immer zuerst kommen. Aber wir können der Oktopus werden, der mit seinen Tentakeln denkt.“ Ihr Pavillon geriet zu einer großen Märchenerzählung über Auflösung von Trennlinien. Zwischen Selbst und Ozean, Technik und Natur, Poesie und Politik. Selbst Wortbedeutungen wurden flüssig: Zwischen der Tiefsee – „Deep Sea“ – und dem tiefen Sehen – „Deep See“ – im Ausstellungstitel bestand nur ein Buchstabe Unterschied. Diese Sogkraft des Meeres lässt sich bald wieder spüren, wenn Prouvost ab 2. April das Fort Saint-Jean am Hafen von Marseille bespielt und einen Film zeigt, den sie in der Umgebung mit Freitauchern gedreht hat.
Die Sehnsucht nach der Verbindung mit dem Gegenüber, die ihre Kunst seit den ersten Arbeiten kennzeichnet, scheint nun in Berlin in Erfüllung zu gehen: „Viele meiner Videos wenden sich an das Du, aber in der Quantenrealität gibt es Du nicht mehr, sondern nur Wir“, sagt Laure Prouvost. In ihrem neuen Film sind wir die Hände, die gemeinsam Blumen verstreuen – oder die Qubits, die nebeneinander im Bauch eines Wals existieren. Oder wir sind die „Cute Bits“ getauften Elemente, die kleinen Meteoren ähneln, die auf ihren Oberflächen Pflanzen, Fäden, Federn, Kupferblätter, Glasfische angesammelt haben und sich in der Halle des Kraftwerks Berlin neben der Filmprojektion auf und ab bewegen, in Reaktion auf die Bilder und den dazugehörigen Soundtrack, aber auch in Zufallsentscheidungen. Laure Prouvost lässt zur Illustration kurz ihre Hände durch die Luft schweben. Wir alle sind Galaxien. Und wir sind niemals allein.
„Laure Prouvost. We Felt a Star Dying“,
Kraftwerk Berlin,
bis 4. Mai 2025