Er begann als literarischer Zirkel, dann wurde der Surrealismus eine der schillerndsten Bildwelten der Moderne. Als Sammelgebiet ist er bis heute so fantastisch wie in seinen wilden Kindertagen
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25.03.2022
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Erschienen in
WELTKUNST Nr. 196
Der Surrealismus war die schönste Revolution des 20. Jahrhunderts. Alle Macht dem Unbewussten, den Träumen, dem Zufall. Keine Religion, keine Denkverbote. Im Paris der frühen 1920er-Jahre zweifelte eine Handvoll Künstler am Glauben an die Vernunft, zu bizarr erschien ihnen die Welt. Die Erinnerungen an die Gräuel in den Schützengräben von Verdun waren noch nicht verblasst, da tanzten an der Seine die Selbstzufriedenheit und die Doppelmoral schon wieder in den einschlägigen Etablissements. Die klugen Köpfe der Menschheit von Thomas von Aquin bis Anatole France hätten nichts anderes hervorgebracht als Hass, Selbstgefälligkeit und Zerstörung, meinte André Breton.
Als Wortführer, Vordenker und Strippenzieher der Surrealisten liebäugelte der Schriftsteller vielleicht mit etwas mehr marxistischem Aktionismus und Anarchie. Die wahren Botschafter des neuen Denkens aber waren die Maler mit ihren subversiven, verstörenden Bildern. Der exzentrische Salvador Dalí, dessen zerfließende Uhren auf seinem Gemälde zum Sinnbild des Surrealismus geworden sind, offenbarte all seine paranoid-kreativen Obsessionen in verwirrenden, hyperrealistisch ausgeführten Phantasmagorien. Und Joan Miró entschwand mithilfe magischer Zeichen und wolkiger Farbflächen in eine schwebende Welt der Poesie, in der der Funken der Seele aufblitzen sollte.
Die Rätselhaftigkeit und Magie der Unergründlichkeit machen die Faszination des Surrealismus von jeher aus. Auf dem Kunstmarkt stand er in den vergangenen Jahrzehnten nie im Abseits. Stiegen die Kurse für die Moderne, galt dies auch für die Surrealisten. Mit 51,5 Millionen Pfund für René Magrittes Gemälde „L’empire des lumières“ hat Sotheby’s Anfang März in London einen neuen Rekord für den Künstler aufgestellt, mehr als das Doppelte der bisherigen Höchstmarke. Aber auch sonst spielt der Surrealistenmarkt in hohen Gefilden. Sechs- und siebenstellige Preise für bedeutende Gemälde von Max Ernst oder Yves Tanguy sind normal.
Wie alle Sammelgebiete haben auch die Surrealisten ihre Werthierarchie. Als Christie’s 2015 mit einem geballten Angebot in seinem „The Art of the Surreal Evening Sale“ vierzehn Millionenerlöse einfuhr, kommentierte Olivier Camu, damals Co-Chef der Modern-Art-Abteilung, die sensationellen Ergebnisse nicht ganz ohne Snobismus: „Die surrealistische Kunst scheint den Happy Few vorbehalten zu sein.“ Das trifft für Meisterwerke wie Dalís „Nähmaschine mit Regenschirmen“ zu, das im Juni 2021 bei Artcurial mit Aufgeld 2,5 Millionen Euro kostete, aber auch für die anderen Künstler aus der ersten Reihe. Dagegen erreichen Victor Brauners schablonenhaft und mit einem Hauch Folklore gemalten Kompositionen nur selten Hammerpreise im sechsstelligen Bereich. Und selbst von Max Ernst lassen sich zuweilen für moderate Summen Schätze heben, etwa die Ölskizze „Claire de lune“ von 1947: Die schreibheftgroße Papierarbeit aus der Sammlung des Filmemachers Peter Schamoni wurde letzten Oktober bei Phillips in London samt Aufgeld für 32 800 Pfund verkauft.
Als diese entrückte Traumlandschaft mit einem übernatürlich leuchtenden Mond entstand, befand sich der Surrealismus bereits in seiner dritten Phase. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte Breton noch einmal alles daran, an die wilde Vorkriegszeit anzuknüpfen. Sein Tod 1966 markierte den Schlusspunkt der Bewegung. Die Abwendung von der Logik der Ratio war jedoch längst zum Grundprinzip ganz anderer Strömungen geworden, bis heute lebt die surrealistische Idee im Werk zahlloser Künstlerinnen und Künstler fort. Aber nur eine Malergeneration lang existierte die Bewegung unter dieser Flagge, und Breton wachte wie ein Schiedsrichter darüber, wer zu seinem Kreis zählen durfte. Die Gruppe war nicht groß, aber bis heute ist sie das Zentrum der Betrachtung.
Bretons „Manifeste du surréalisme“ von 1924 war die Bibel, auf die alle schwören mussten. Die neue Weltanschauung sah den Traum als Wahrheit ohne Logik, doch ganz am Anfang stand das Wort. Die Poeten Louis Aragon, Paul Éluard, André Breton und Tristan Tzara proklamierten eine neue Art des Schreibens: die Écriture automatique, bei der den Gedankengängen freien Lauf gelassen wird. Was die Dadaisten zuvor auf den Kabarettbühnen in Zürich und Berlin als bewussten Nonsens vollführten, wurde zu Konzept und Regelwerk der Surrealisten. 1920 veröffentlichten Breton und Philippe Soupault mit dem Poem „Les Champs magnetiques“ („Die magnetischen Felder“) das erste surrealistische Werk, nach dem Diktat des Unbewussten verfasst.
In den frühen Jahren, der ersten Phase, war der Surrealismus eher eine literarische Bewegung. In der Zeitschrift La Revolution surréaliste wurde theoretisiert und philosophiert, und vom „Büro für surrealistische Forschung“ aus verschickten die Künstler ihre „Papillons“ („Schmetterlinge“): kleine Zettel mit Aufforderungen wie „Erzählen Sie Ihren Kindern Ihre Träume“. Spätabends, wenn die Diskussionen über Kunst und Aktionen erlahmten und eine Flasche Chateau d’Yquem geleert war, kam das Vergnügen. Wie Kinder bildeten sie Wortketten. Verdeckt wurde die bereits geschriebene Wendung an den nächsten weitergereicht. Ab 1925 entstanden so die als cadavre exquis berühmt gewordenen, herrlich absurden grafischen Werke, die ihren Namen von einem auf diese Weise gewonnenen Satz bekamen: „Der köstliche Leichnam trinkt den neuen Wein.“ Jedes Ziel, jede Logik, jede Absicht war ausgeschaltet. Am Markt sind diese Blätter Raritäten.
Die Malerei drang erst langsam in den Kreis der Surrealisten vor. Zunächst gehörten lediglich Man Ray, Marcel Duchamp und Max Ernst zum engen Umfeld Bretons. Ernst experimentierte mit Collagen, die er als Ausdruck des Halluzinatorischen verstand. Duchamp propagierte seine Readymades als Umkehrung von Sinn, Zweck und Definition banaler Gegenstände. Und Man Ray, der mit seinen Rayografien der surrealistischen Fotografie einen enormen Impuls verlieh, wechselte vom Irrsinn des Lebens in die Absurdität der Kunst mit hintersinnigen Objekten. Sein Metronom mit dem pendelnden Auge von 1923 und sein 1921 realisiertes Bügeleisen, aus dessen Sohle statt Dampf ein Bataillon spitzer Nägel herausschießt, wurden surrealistische Ikonen.
Es ist erstaunlich, wer 1925 auf der ersten Ausstellung surrealistischer Kunst in der Galerie Pierre vertreten war. Paul Klee und Hans Arp, Picasso, de Chirico, Miró, Masson und der heute nur marginal wahrgenommene Pierre Roy, dessen Bilder an der Grenze zum magischen Realismus der Neuen Sachlichkeit stehen. Ein Gegensatz zwischen surreal und modern existierte nicht. Solange ein Gemälde eine Schöpfung des Geistes war und nicht die Natur nachahmte, sah Breton jeden Maler auf dem Feld des Surrealismus. Er war keine Stilrichtung, er war eine Denkhaltung. Picasso selbst, der in den 1920er-Jahren alles geometrisch zerlegte und deformierte, sah seine Malerei durchaus im Licht des Surrealismus. Er hätte sich sogar als Surrealist bezeichnet, wenn nicht Breton diesen Begriff für seine Jünger besetzt und ein so orthodoxes Regime geführt hätte.