Surrealismus

Geboren aus Zufall und Traum

Er begann als literarischer Zirkel, dann wurde der Surrealismus eine der schillerndsten Bildwelten der Moderne. Als Sammelgebiet ist er bis heute so fantastisch wie in seinen wilden Kindertagen

Von Sabine Spindler
25.03.2022
/ Erschienen in WELTKUNST Nr. 196

André Masson war ein stilistischer Freigeist und malte mal mehr kubistisch, mal mehr abstrakt. Auf der Suche nach einem Pendant zur Écriture automatique kritzelte er mit einem Stift schriftähnliche Formen auf ein Stück Papier. Als „Dessin automatique“ („Automatische Zeichnung“) erschien die Arbeit 1924 in der ersten Ausgabe der Revolution surréaliste. „Er ist leider ein immer noch viel zu wenig beachteter Surrealist“, sagt Peter Femfert, Inhaber von „Die Galerie“ in Frankfurt. Bis ins hohe Alter folgte Masson in seinen „Dessins automatiques“ der Stimme des Unbewussten. Bei Femfert starten die Preise für die Zeichnungen bei 5000, für Gemälde bei 150 000 Euro.

Wie bei dem gebürtigen Chilenen Roberto Matta lässt sich auch bei dem kubanischen Maler Wifredo Lam eine scharfe Linie zwischen gegenständlicher Malerei und Abstraktion nicht ziehen. Als Lam in den Dreißigern nach Paris kam, stand er Picasso näher als den Surrealisten. Letztlich aber zog ihn die Gruppendynamik um Breton stärker an, bevor er Anfang der Vierziger nach Kuba zurückging. Die Verbindung zu seinen surrealen Mitstreitern brach nie ab. Lam durchbrach früh den Eurozentrismus der Moderne. In seinen Arbeiten trifft die Bildsprache Picassos auf karibische Mythen und Formen. Die Pace Gallery in New York widmete Lam kürzlich eine Ausstellung, und die Münchner Galerie Thomas zeigte im Dezember seine Crossover-Moderne auf der Art Basel in Miami Beach. „Im Süden der USA ist man sehr empfänglich für die lateinamerikanisch geprägte surreale Kunst, zu der ich auch Óscar Domínguez zähle“, meint Silke Thomas. Für rund zwei Millionen Euro bietet sie derzeit eine magisch aufgeladene Komposition Lams an, seine Papierarbeiten kosten in der Galerie ab 100 000 Euro.

Gegensätze bei Dalí und Ernst

Für alle Surrealisten war die Traumdeutung von Sigmund Freud eine Offenbarung, ein Reiseführer zum wahren Ich, vorbei an bizarren Bildern aus den Untiefen der Seele. Dalí bezog daraus das Reservoir seiner Motive. Brennende Giraffen, zum Sprung bereite Tiger, monströse, weich geformte Körper und eine Venus von Milo, deren Torso zu einer Kommode mit mehreren Schubladen mutiert – das sind nur einige Versatzstücke des Irrationalen. Mit Dalís enigmatischen Fantasien und Max Ernsts gewaltigen Bildorgien wandelte sich der Surrealismus nach 1925 in seiner zweiten Phase von einer literarischen zu einer malerischen Bewegung.

Dalís große Werke aus den Dreißigern und Vierzigern sind bis heute Millionenbringer. Die Spitzenposition hat immer noch das mit schrägen Versatzstücken verrätselte, 1929 gemalte Porträt von Paul Éluard inne, 2011 bei Sotheby’s für 13,5 Millionen Pfund brutto versteigert. In seiner Spätphase widerstand Dalí nicht immer dem Kitsch. Das drückt sich deutlich im Preis aus, so auch 2019, als eine überhitzte „Schmetterlingslandschaft“ von 1973 bei Christie’s New York mit Aufgeld bei 107 000 Dollar stehen blieb (nachdem das Auktionshaus selbst ihr gerade mal ein Drittel davon zugetraut hatte). Den Markt für Grafik hat Dalí übrigens selbst vergiftet, indem er Tausende von Blättern blanko signierte, bevor Drucker die Galerien mit surrealen Motiven in seinem Stil fluteten.

Fälschungssicher ist auch das Œuvre von Max Ernst nicht. Etwa 400 unechte Werke fischte der Ernst-Experte Werner Spies über die Jahre heraus. Mindestens sechsmal allerdings ging er selber dem Betrüger Wolfgang Beltracchi auf den Leim. Mit Spies-Expertisen versehen, gingen mehrere Gemälde für Millionensummen in angesehene Sammlungen. Max Ernst war nicht nur sehr produktiv, sondern der größte Visionär unter den surrealistischen Malern. Zwischen seinen dystopischen, monsterhaften Chimären, seinen phantomartigen „Loplop“-Bildern, die sich auf den Urvater aller Vögel beziehen und zugleich Ernsts Alter Ego verbergen, und seinen späteren Referenzen an eine kubistische Figürlichkeit schuf der Gentleman unter den Surrealisten Landschaften, die wie unendliche Vexierbilder einer irrealen Natur wirken.

Max Ernsts Preisskala hält vieles bereit: von den 2017 bei Christie’s eingespielten 16 Millionen Dollar für die Bronzeskulptur „Le roi jouant avec la reine“ bis zu kleineren, aber nicht minder faszinierenden Gemälden, die sich für fünfstellige Summen erwerben lassen. Attraktiv können auch die in kleinen Auflagen entstandenen Grafiken sein, wie die farblich fein ausgewogene Lithografie „Masque“ (1950), die bei Venator & Hanstein vor zwei Jahren für 2500 Euro zu haben war.

Die Einbeziehung des Zufalls in die Kunst verlangte nicht nur Visionen, sondern auch neue Techniken. Die Dadaisten, die als Vorläufer der surrealistischen Bewegung lange unterschätzt wurden, bevorzugten die Materialcollage als bewusste, sarkastische Chaosstrategie. Die Surrealisten benutzen die Collage als kompositorische Methode zum Sichtbarmachen ihrer Bilder aus den Tiefen verdrängter Erfahrungen. Selbst Magrittes bildnerisches Verfahren, durch scheinbare falsch platzierte Dinge und durch unwirkliche Größenverhältnisse die Realität zu überwinden, bezeichnen manche Kritiker als gemalte Collage.

Max Ernst ging noch einen Schritt weiter. In den Holzdielen eines alten Gasthofes sah er fantastische Gebilde. War es bislang ein Kinderspiel, solche Strukturen mit Bleistift auf ein Blatt Papier durchzureiben, erhob Max Ernst die Frottage zu einer künstlerischen Methode. Bei vielen seiner Gemälden bediente er sich neuen Techniken wie der Décalcomanie oder der Grattage.

Man kann sich wunderbar verlieren in den surrealistischen Bilderwelten. Yves Tanguy etwa, der immer etwas im Schatten von Ernst und Dalí stand, entführt in sphärische Landschaften. Es könnten Mondlandschaften, Wüsten, Meeresgründe sein, in denen er scheinbar zusammenhangslos knochenlose oder technoid-insektenartige Wesen ansiedelt. Wie kaum bei einem anderen Surrealisten ist bei Tanguy der Einfluss von Giorgio de Chirico zu spüren. Die Pittura metafisica, die der Italiener schon vor dem Ersten Weltkrieg kreiert hatte, galt allen Surrealisten als Vorwegnahme des eigenen Konzepts.

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