Ruth Wolf-Rehfeldt

Bilder aus der Schreibmaschine

In den 1970er- und 1980er-Jahren schuf Ruth Wolf-Rehfeldt in Ostberlin ein erstaunliches Werk von „Typewritings“. Nun ist sie im Alter von 92 Jahren gestorben – und hat noch miterleben können wie eine neue Generation ihr Werk wiederentdeckt

Von Matthias Ehlert
20.06.2016
/ Erschienen in WELTKUNST Nr. 114

Berlin-Pankow, Mitte der 1970er-Jahre. In einer Erdgeschosswohnung in der Mendelstraße sitzt eine zierliche Frau über ihre Schreibmaschine gebeugt. Sie tippt keine Briefe, keine Tagebücher und auch keine Beschwerden darüber, dass es in ihrer Wohnung ständig feucht und kalt ist. Sie tippt stattdessen Bilder auf ihrer „Erika“, schafft aus unzähligen Buchstaben, Nullen, Kommas, Pfeilen oder Pluszeichen kleine grafische Wunderwerke. Während draußen schon frühmorgens die Fahrzeuge der Stadtreinigung vorbeidonnern, die gegenüber ihren Betriebshof hat, klackern drinnen leise und beharrlich die Schreibmaschinentasten – wie Regentropfen, die sich zu seriellen Mustern fügen. 

Drinnen und draußen, das sind für Ruth Wolf-Rehfeldt schon immer zwei ganz getrennte Seinserfahrungen. Draußen heißt Kommunikation, Lärm, Zumutung, drinnen bedeutet Konzentration, Stille, Bei-sich-sein. Sie selbst bevorzugt eindeutig das Drinnen und hat deshalb – „Gegensätze ziehen sich an“ – einen Mann geheiratet, der das genaue Gegenteil verkörpert. Robert Rehfeldt ist in den Siebzigerjahren der große Zampano der DDR-Kunst an der Schnittstelle zwischen halboffiziell und unangepasst. Ein geduldeter Hofnarr, der gern viele Leute um sich schart, ständig neue Projekte ausbrütet, von Joseph Beuys schwärmt, sich in den verschiedensten Genres, von der Malerei bis zum Schmalfilm, probiert und schließlich mit seiner Mail Art zu einer Berühmtheit wird. „Wenn das Telefon klingelte“, erinnert sich Ruth Wolf-Rehfeldt heute,“ lief er immer sofort hin, aus Angst etwas zu verpassen. Ich ließ es lieber klingeln, es hätte ja etwas auf mich zukommen können.“

Ruth Wolf-Rehfeldt Typewriting
Ruth Wolf-Rehfeldt, „Information (Informationsbildung)“, 1970er / „Cages on the run”, 1980er-Jahre. © Courtesy of the artist und ChertLüdde

Zwanzig Jahre zuvor, an einem Frühlingstag 1954, war dieser Robert Rehfeldt auch seiner künftigen Frau sofort hinterhergelaufen, nachdem er sie auf der Straße gesehen hatte. Verpassen wollte er nichts. Und wurde so zum Schicksalsboten, der ihr das Tor zu einer Welt aufstieß, die sie vielleicht von selbst nicht betreten hätte. Aus dem sächsischen Wurzen war Ruth Wolf damals als kaufmännische Angestellte nach Ostberlin gekommen, hatte an der Arbeiter- und Bauernfakultät ihr Abitur nachgeholt und begonnen, Philosophie zu studieren. Nun taucht sie, frisch verheiratet, in die Künstlerboheme ein, in der ihr feierfreudiger Mann mit seinem Kelleratelier in Mitte ein Dreh- und Angelpunkt ist.

Die beiden führen nicht nur eine Ehe, sie gehen auch eine fruchtbare Arbeitsbeziehung ein. Sie ist sprachtalentiert, was ihm, der alles Ausländische liebt und gern polnische oder englische Phrasen in seine Monologe einfließen lässt, sehr zupasskommt. Er ermutigt sie in ihren künstlerischen Versuchen, teilt bereitwillig sein Wissen mit ihr. „Im Unterschied zu mir hatte Robert richtig Kunst studiert, ich bin ja nur eine Autodidaktin“, sagt sie, beinahe entschuldigend. Sie beginnt, neben ihrer Tätigkeit im Archiv der Akademie der Künste, zu zeichnen und zu malen, schreibt Gedichte, die in ihrer Lakonie an Ringelnatz erinnern.

Ruth Wolf-Rehfeldt
Die Künstlerin Ruth Wolf-Rehfeldt in ihrem Garten in Berlin-Pankow. © Foto: Daniel Hofer

Inzwischen hat die 68er-Zeit begonnen, im Westen demonstrieren die Studenten, in der Dritten Welt formieren sich Befreiungsbewegungen, und im Osten testet man vorsichtig aus, was alles möglich ist. Zum Beispiel Karten verschicken in die ganze Welt. 1971 hat der französische Kunstwissenschaftler Jean-Marc Poinsot den Begriff „Mail Art“ geprägt – als Label für eine künstlerische Praxis, die bereits von Protagonisten der Fluxus-Bewegung wie Ray Johnson oder Ben Vautier in den Sechzigerjahren erprobt worden war. Auf einer Postkarte oder einem gestalteten Briefumschlag senden sich Künstler ihre Einfälle zu und schaffen so ein Netzwerk kollektiver Kreativität. Robert Rehfeldt reagiert enthusiastisch auf diese neue künstlerische Bewegung, an der jeder teilhaben kann und die etwas leicht Subversives hat. Er beginnt sich Adresslisten von Künstlern zu besorgen und stürzt sich manisch in die Korrespondenz: „Ich schicke Ihnen einen Gedanken. Bitte denken Sie ihn weiter.“ So wird er zur zentralen Figur der Mail Art in der DDR.

Seine Frau Ruth legt gelegentlich ihre auf der Schreibmaschine gefertigten Schrift-Bilder bei, die natürlich zu leise sind, um mit den starken Parolen der Männer mitzuhalten. 1972 werden sie das erste Mal in einer Gruppenschau vorgestellt, bezeichnenderweise nicht in der DDR, sondern im polnischen Wroclaw. Drei Jahre später organisiert Robert Rehfeldt die erste Mail-Art-Ausstellung der DDR, indem er sich Postkarten nach Warschau schicken lässt, mit denen er die Galerie Teatru bestückt. Parallel dazu werden zum Teil vergrößerte „Typewritings“ von Ruth Wolf-Rehfeldt gezeigt, die für Aufsehen sorgen. Es ist die erste Einzelausstellung der inzwischen 43-Jährigen.

Ruth Wolf-Rehfeldt Typewriting
Tanzende Zeichen: Ruth Wolf-Rehfeldts Blatt „Ohne Titel“. © Courtesy of the artist und ChertLüdde

Sie hat zu diesem Zeitpunkt ihren Stil gefunden und scheint sich nun auch selbst als Künstlerin ernst zu nehmen; 1978 wird ihrem Aufnahmegesuch in den Verband Bildender Künstler der DDR (VBK) entsprochen. Im Nachhinein wirkt alles ganz folgerichtig: Jahrelang oszillierend zwischen Zeichnungen und Gedichten, zwischen visueller und poetischer Kunst, mit deren Resultaten sie nie ganz zufrieden war, gelingt Ruth Wolf-Rehfeldt in den 1970ern der Durchbruch zu einer neuen, ihr gemäßen Form. Oder mit ihren eigenen Worten: „Ich war ganz erstaunt. Mit der Schreibmaschine konnte man ja alles Mögliche machen.“

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