In den 1970er- und 1980er-Jahren schuf Ruth Wolf-Rehfeldt in Ostberlin ein erstaunliches Werk von „Typewritings“. Nun ist sie im Alter von 92 Jahren gestorben – und hat noch miterleben können wie eine neue Generation ihr Werk wiederentdeckt
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20.06.2016
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Erschienen in
WELTKUNST Nr. 114
Schaut man sich heute diese Arbeiten an, so lässt sich ihre künstlerische Entwicklung gut verfolgen. Am Anfang spielt sie vor allem mit Wörtern und Buchstaben, es sind kleine dadaistische Einfälle, die sie umsetzt. Doch dann macht sie sich immer freier von semantischen Bedeutungen, benutzt auch die anderen Zeichen, die Kommas und Striche. Kuben, Kästen, Käfige nennt sie nun ihre Schöpfungen, die eine räumliche Dimension gewinnen und zugleich in ihrer Begrenztheit und Verdichtung ein abstraktes Sinnbild für die menschliche Käfighaltung in der DDR sind. Seltsame Golems erweckt sie zum Leben, wie den Kopffüßler „Punky“. Doch was am meisten frappiert an den über 600 Arbeiten, die in jenen Jahren entstehen, ist die schier unendliche Vielfalt an Variationen. Damit kann sich ihr Werk etwa neben dem Eugen Gomringers, des ungleich berühmteren Erfinders der Konkreten Poesie, selbstbewusst behaupten.
Doch die kreative Quelle sprudelt nicht ewig. Mit dem Ende der DDR ist sie endgültig ausgetrocknet. Eine letzte Auftragsarbeit für eine 50-Quadratmeter-Kachelwand kommt über das Stadium der Skizze nicht hinaus. Es scheint fast so, als würden die neuen Zeiten Ruth Wolf-Rehfeldt Angst machen. Man muss sich jetzt verkaufen, muss kommunizieren, muss immer up to date sein. Sie zieht sich zurück und beendet ihre künstlerische Produktion: „Es gibt so viel Kunst, dachte ich, da brauche ich nicht auch noch welche zu machen.“ Ihr Mann dagegen stürzt sich voller Elan in die gesteigerten Möglichkeiten, sammelt die abgehängten Honecker-Porträts aus den Amtsstuben, um damit ein riesiges Einheitskunstwerk zu gestalten – und stirbt 1993 überraschend im Alter von 62 Jahren.
Berlin-Pankow, im März 2016. In einem von Pflanzen umarmten Einfamilienhaus im Ortsteil Französisch-Buchholz öffnet Ruth Wolf-Rehfeldt die Tür. Sie hat gerade ihren 84. Geburtstag gefeiert. Sechs Wochen lang habe ich versucht sie zu erreichen, ohne Erfolg. Sie sei auf einem Yoga-Retreat, hieß es. Natürlich stellt man sich da eine sonnige Insel in Thailand oder Indonesien vor. Später stellt sich heraus, dass sie die ganze Zeit zu Hause war. Jedes Jahr mache sie das, ziehe den Stöpsel aus dem Telefon, breche alle Kontakte nach außen ab und reduziere sich selbst auf das Allerwesentliche – wie ein Tier im Winterschlaf.
Sie wirkt frisch und klar, ein wenig schüchtern und frei von Eitelkeit. Rummel um ihre Person liegt ihr nicht. Noch immer bewahrt sie in einem eigenen Raum in dicken, sorgsam beschrifteten Ordnern die Mail-Art-Korrespondenz von sich und ihrem Mann auf. Doch das ist Vergangenheit, auch wenn jüngere Künstler gelegentlich versuchen, mit ihr an die alten Zeiten anzuknüpfen. „For Ruth the sky in los angeles“ steht auf einer frisch eingetroffenen Karte. Sie hat sich darüber gefreut, „aber das Gute an der Mail Art ist ja, dass es keinen Zwang gibt zu antworten“.
Blickt man sich um in ihrem mit Büchern vollgestopften Wohnzimmer, in dem der bei alleinstehenden älteren Herrschaften obligatorische Fernseher fehlt, erkennt man, wohin sich ihre Interessenschwerpunkte verlagert haben. Die Weltreligionen, Astronomie, Esoterik. Eine Tageszeitung hat sie nicht abonniert, dafür „Bild der Wissenschaft“. Die aktuelle Ausgabe mit einem Titel über Gravitationswellen liegt griffbereit. Es beschleicht einen das Gefühl, dass hier noch immer Gedanken Gestalt annehmen könnten, dass es so etwas wie ein geheimes Spätwerk der Ruth Wolf-Rehfeldt geben könnte. Doch sie wiegelt ab: „Wenn ich einmal mit etwas aufhöre, dann ist das endgültig. Ich beschäftige mich jetzt mit Sachen, die Sie nicht sehen.“
An ihrer Seite ist die junge, aus der Nähe von Mailand stammende Jennifer Chert, die in Berlin eine Galerie betreibt. Über komplizierte Umwege, bei denen die Mail Art und das Museum of Modern Art eine Rolle spielen, ist sie zufällig auf die „Typewritings“ von Ruth Wolf-Rehfeldt gestoßen. Sie war so elektrisiert davon, dass sie auf der Stelle eine große Recherche startete, an deren Ende bald ein Werkverzeichnis und eine Präsentation auf der Art Basel stehen.
Doch Jennifer Chert war nicht die Erste, die dieses in der Wendezeit verschüttete Werk wiederentdeckte. 2009 richtete die Weserburg in Bremen die Ausstellung „obenauf und ungebrochen“ aus, die sich mit Künstlerpublikationen aus der DDR beschäftigte. Mit dabei auch Arbeiten von Ruth Wolf-Rehfeldt, die ästhetisch so herausragten, das Anne Thurmann-Jajes, die Leiterin der Weserburg, beschloss, den Vorlass dieser Künstlerin zu erwerben und ihr zum achtzigsten Geburtstag 2012 eine Retrospektive auszurichten. Daneben bemühte sich der Berliner Psychoanalytiker und Kleinverleger Lutz Wohlrab, der noch als junger Mann in den Achtzigerjahren zur Ostberliner Mail-Art-Szene gestoßen war und dabei auch Ruth Wolf-Rehfeldt kennengelernt hatte, mit kleinen Editionen, die Erinnerung an ihr für die DDR singuläres Werk wachzuhalten.
Anne Thurmann-Jajes und Lutz Wohlrab könnten die Kinder von Ruth Wolf-Rehfeldt sein, Jennifer Chert ihre Enkelin. Dass alle drei, aus ganz unterschiedlichen Richtungen kommend, ein so starkes Interesse für ihr Werk zeigen, zeugt von dessen künstlerischer Qualität. Es ist eben nicht, wie so vieles aus der DDR, an die konkreten Umstände gebunden, an ein von den Zeitläuften überholtes Ankämpfen gegen den realsozialistischen Stumpfsinn. Es wirkt autark, eigensinnig, wie eine subjektiv notwendige Reise nach innen, wo aus Gedanken Zeichen werden, aber auch wie ein Prolog zur digitalen Kunst. Jede Generation kann es so für sich aufs Neue entdecken. Ruth Wolf-Rehfeldt selbst trägt ihre späte künstlerische Wiederauferstehung mit buddhistischem Gleichmut: „Ich wäre nicht unglücklich gewesen, wenn es nicht passiert wäre“, sagt sie, „weil ich es nicht erwartet habe.“ Dabei umspielt ein Lächeln ihre Lippen, so als wolle sie noch sagen, dass man den Dingen mit Zeichen nicht mehr nahekommt. Aber vielleicht wieder mit Gedanken.
„Retrospektive: Ruth Wolf-Rehfeldt“
Das MINSK, Potsdam
geplant für Herbst 2022