Georgia O’Keeffe

Früchte der Wüste

In den 1940er-Jahren zog die legendäre Malerin Georgia O’Keeffe von der Metropole New York in die karge Landschaft New Mexicos. Und wurde zur Pionierin von Slow Food und gesunder Vollwertkost

Von Christiane Meixner
10.09.2021
/ Erschienen in WELTKUNST Nr. 169

Alfred Stieglitz fotografierte seine Frau nackt – oder unnahbar, bis zum Hals in ein dunkles Cape gehüllt. Mal trägt Georgia O’Keeffe ihr langes Haar offen und die schmalen Schultern gerade so von einer Bluse bedeckt. Die helle Haut ihres Dekolletés suggeriert Verletzlichkeit. Oft schaut sie direkt aus dem Bild, fixiert einen mit Blicken von fast unheimlicher Intensität oder verliert sich im Vagen, während der Fotograf hinter der Kamera am image der Künstlerin feilt. Es gibt so viele Porträts, die sie während ihrer fast 30-jährigen Beziehung zu Stieglitz inszenieren: erotisch, mysteriös, eine moderne Malerin im Manhatten der Zwanzigerjahre, deren Berühmtheit sich nicht zuletzt der Tätigkeit ihres Mannes als Galerist verdankt.

Später, als Georgia O’Keeffe die Kontrolle über ihre Selbstdarstellung zurückerlangt, entsteht ein anderes Bild. Nach Stieglitz, der 1946 an einem Herzinfarkt stirbt, beschäftigen sich prominente Fotografen wie Ansel Adams, Todd Webb oder Tony Vaccaro mit ihrer Person. Dafür reisen sie tief in den Südwesten der USA, nach New Mexico in die Nähe von Santa Fe, wo die Künstlerin inzwischen lebt. Dort bevorzugt sie weiterhin jenen puren Stil, mit dem sie bereits in New York auffiel: Allein wie sie sich kleidete und einrichtete, war jüngst Thema der hinreißenden Wanderausstellung „Modern Living“, die Anfang Februar 2020 im Norton Museum of Art in Florida endete. Nun aber, in der staubigen Prärie, lässt sich O’Keeffe auch in Blue Jeans und Karohemd fotografieren. Zupackend, ein großes Tierskelett in den Händen und manchmal sogar mit einem feinen Lächeln, das Stieglitz niemals festhielt. Sie sitzt am Tisch, um aus Taiwan importierten Tee zu trinken, während man in den Fenstern hinter ihr die grandiose Landschaft ahnt. Für den Fotografen Todd Webb bindet sich die Künstlerin eine Küchenschürze um den Bauch und schnippelt Gemüse, das vor ihrer Haustür in Abiquiú wächst.

Der Garten ist O’Keeffes Speisekammer, die Bewässerung fußt auf einem alten lokalen System und reicht auch für Bäume voller Äpfel, Aprikosen, Pfirsiche und Maulbeeren. Margaret Wood, die 1977 als junge Frau nach New Mexico zog, um der damals 90-Jährigen zur Hand zu gehen, erinnert sich noch gut an O’Keeffes Kommentar, wenn es ums Essen ging: Schauen wir, was der Garten hergibt, lautete ihre Antwort auf die Frage, worauf sie gerade Appetit habe. Je nach Saison kam dann der „Classic Summer Salad“ mit einem Dressing aus Kräutern, Olivenöl, Zitrone und Senf auf den Tisch. Salz und Pfeffer gehörten laut Rezept nach Geschmack über die Blätter – und immer zwei gepresste Knoblauchzehen. Wood servierte auch eine Suppe aus Wasserkresse und wildem, in Butter geschwenktem Spargel oder ein „Herb Omelet“, dessen Eier von einem der Nachbarshöfe stammten. So wie die Ziegenmilch in der Küche oder der Honig für O’Keeffes „Atomic Muffins“. Spinat konnte sie dreimal am Tag essen, so gern mochte sie ihn – allerdings nur, wenn er gedämpft und nicht gekocht wurde. Sie liebte Steaks und Enchiladas und las vor dem Einschlafen gern in Kochbüchern.

Georgia O'Keeffe Centre Pompidou Black Hills Gemälde
Das Pariser Centre Pompidou widmet Georgia O'Keeffe eine Retrospektive und zeigt bis zum 6. Dezember unter anderem ihre „Black Hills with Cedar“ (1941-1942) © Foto: Cathy Carver. Hirshhorn Museum and Sculpture Garden / Georgia O’Keeffe Museum / Adagp, Paris, 2021

Abiquiú wurde ihr Paradies, die Künstlerin zur Selbstversorgerin. New York war immer ein Kompromiss aus Liebe gewesen, dem künstlerischen Pionier Stieglitz geschuldet, der die Metropole als Resonanzraum für sein Ego brauchte. Die Galerie 291, in der er 1917 O’Keeffes erste Soloschau organisierte – da kannte er sie noch gar nicht, sondern hatte bloß ein paar abstrakte Kohlezeichnungen gesehen –, lag an der Fifth Avenue und war Treffpunkt der Avantgarde. O’Keeffe war auf dem Land in Wisconsin aufgewachsen, ihre Eltern waren aus Irland und Ungarn eingewanderte Farmer. Säen, ernten, nähen: All das war für die Zweitälteste der neunköpfigen Familie selbstverständlich. Dennoch wählte Georgia die Kunst.

Ein Kind mit Eigensinn, das dokumentiert schon ein frühes, anonymes Klassenfoto. Die anderen Mädchen stecken ihr Haar darauf weich hoch und krönen es mit einer Schleife. O’Keeffe trägt dagegen einen Zopf mit strengem Scheitel. Man ahnt, dass sie andere Dinge im Kopf hatte als gefällig nach der Mode zu gehen. Georgia O’Keeffe kappt ihre Wurzeln nie ganz. Auch als Künstlerin in New York näht sie viele Kleider selbst, Gekauftes wird sorgfältig von Hand gestopft und repariert. Nach einer kurzen Phase der Abstraktion kehrt die Malerin zum figurativen Motiv zurück und zehrt weiter von den Erinnerungen ihrer Kindheit: Die schönsten, bekanntesten Bilder zeigen Blätter, Früchte und immer wieder Blüten in monumentaler Ansicht. Die Künstlerin ist der Natur ganz nahe. Und am liebsten macht sie das Kleine groß, indem sie genau hinschaut.

Ihre Zeichnungen und Gemälde machten die Künstlerin innerhalb eines Jahrzehnts zur Legende. Gleichzeitig manifestiert sich im handwerklichen Können, was ihr das Leben auf der Farm mitgegeben hat. Schon während der New Yorker Jahre genießt O’Keeffe die Aufenthalte im ländlichen Lake George, wo Stieglitz’ Familie ein Sommerhaus besitzt – und ihr Mann schwärmt von dem Essen, das sie dort mit Lust am Experiment kocht. 1929, als sich das Paar in einer schweren Krise befindet, sucht O’Keeffe nach einem Ort, um Zeit allein zu verbringen. Malend kommt sie in der Wüste von New ­Mexico zur Ruhe.

Georgia O’Keeffe Fotografie Alfred Stieglitz
Georgia O’Keeffe im Jahr 1918, porträtiert von Alfred Stieglitz. © Georgia O’Keeffe Museum / Adagp, Paris, 2021 / Art Institute of Chicago, Dist. RMN-Grand Palais / image The Art Institute of Chicago

Zwar kehrt sie nach dem Sommer zurück nach New York, doch der Aufenthalt hat Folgen. 1940 kauft die Künstlerin ihr erstes Haus auf dem Gelände der Ghost Ranch nordwestlich von Santa Fe, ein paar Jahre danach gesellt sich eine Hacienda im nahen Abiquiú hinzu; das Gebäude eine Ruine, der große Garten völlig verwildert. Finanziell ist sie längst unabhängig: Schon 1928 verkauften sich sechs ihrer Blumengemälde zu einem Rekordpreis von 25 000 Dollar. 1946, als das Museum of Modern Art in New York ihr als erster Malerin überhaupt eine Soloschau widmet, ist O’Keeffe bereits zur Pendlerin geworden. Und als Stieglitz, den sie oft monatelang nicht mehr sieht, im Sommer desselben Jahres stirbt, regelt sie noch seinen Nachlass. Dann verlässt die Witwe Manhatten endgültig und wechselt bloß noch zwischen ihrem Hauptwohnsitz in Abiquiú und dem einfachen Sommersitz auf der Ghost Ranch.

Nächste Seite