In den 1940er-Jahren zog die legendäre Malerin Georgia O’Keeffe von der Metropole New York in die karge Landschaft New Mexicos. Und wurde zur Pionierin von Slow Food und gesunder Vollwertkost
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10.09.2021
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Erschienen in
WELTKUNST Nr. 169
In Abiquiú ist alles, wie O’Keeffe es 1984 zwei Jahre vor ihrem Tod verlassen hat. Das Haus gehört zum Georgia O’Keeffe Museum, man kann es besuchen. Im spartanisch eingerichteten Schlafzimmer hängt nichts außer einem silbernen Navajo-Schmuck an der Wand, eine Papierlampe des Designers Isamu Noguchi leuchtet den Raum aus. Das Wohnzimmer dominiert ein Mobile von Alexander Calder.
Große Fenster lenken den Blick in die felsige Landschaft, die auch in ihre Bildern einzieht. Sparsam verteilen sich die Möbel, ein Mix aus rustikal und modern. Als Herz des Hauses erweist sich die Küche – oder wenigstens als sein Maschinenraum. Hier trockneten Kräuter aus dem Garten, dampften Eintöpfe auf dem Herd, buk die Künstlerin ihr Vollkornbrot, machte sie Butter selbst und kreierte Leckeres aus wenigen Zutaten. Es herrscht das kalkulierte Chaos: In den offenen Regalen stapeln sich farbig emaillierte Kasserollen, Teekannen in Glas, Metall oder Porzellan und Chemex-Kannen für einfachen, starken Kaffee. Hier stehen Eiscrusher, Joghurtzubereiter und ein Entsafter, mit dem O’Keeffe Obst presste und ihren Gästen nachdrücklich als healthy drink anpries, lange bevor der Smoothie in Mode kam.
Gerade wurde ein Zettelkasten mit von Hand geschriebenen Notizen aus ihrem Nachlass bei Sotheby’s in New York verkauft. Das Auktionshaus hatte die Box, die sich seit den Fünfzigerjahren mit über 300 persönlichen Rezepten füllte, auf 6000 bis 8000 Dollar geschätzt, integrierte sie dann aber in einen Private Sale, in dem die Beinecke Rare Book and Manuscript Library der Universität Yale in New Haven noch ein gemeinsames Adressbuch von Stieglitz und O’Keeffe sowie diverse Manuskripte für ihr umfangreiches Alfred-Stieglitz/Georgia-O’Keeffe-Archiv erwarb.
Nun kann sich auch künftig jeder, der mehr über die widerstrebenden Kapitel im Leben der Künstlerin wissen will, darein versenken. Zum Vorschein kommt dabei vor allem ihre Sympathie für selbst gemachte Vollwertkost – zu einer Zeit, in der Convenience-Produkte die amerikanischen Küchen eroberten. Als die Autorin Robyn Lea 2017 für ihr Buch „Dinner with Georgia O’Keeffe“ im Georgia O’Keeffe Research Center in New Mexico recherchierte, stieß sie im Archiv zwischen sorgsam ausgeschnittenen Seiten aus Magazinen und Gebrauchsanweisungen von Küchengeräten ebenfalls auf handgeschriebene Rezepte. Darunter waren eine simple Karottensuppe und Borschtsch aus roter Beete, die die Künstlerin mit weißer Sour Cream garnierte. Beeindruckt spricht Lea von Georgia O’Keeffe als einer Pionierin der heutigen Slow-Food-Bewegung. Dabei gab es schon damals eine starke Reformbewegung mit Ikonen wie der amerikanischen Ernährungsapologetin Adelle Davis, für die Essen und Gesundheit untrennbar zusammenhingen. O’Keeffe „was an avant garde artist, but she was also a foodie“, erinnert sich auch Margaret Wood, deren Buch „A Painter’s Kitchen“ weitere Gerichte wie „Fried Flowers“ oder „Posole“ mit Schweinerippchen vorschlägt. Die Künstlerin aß auch Fleisch – wenn die Tiere artgerecht gehalten wurden.
Pflanzliche und tierische Komponenten spiegeln sich in ihrer Malerei. Da sind die bekannten Motive von bleichen Schädeln, die sie mit Blumen kombiniert. Es gibt aber auch Pastelle, in denen sich Georgia O’Keeffe hingebungsvoll der Darstellung eines Apfels widmet oder Maispflanzen so delikat auf der Leinwand verfremdet, dass sie wie märchenhafte Gewächse aussehen. Das Bild „Alligator Pears“ von 1923 im Besitz der Georgia O’Keeffe Foundation abstrahiert die grünen Avocados und den braunen Flechtkorb, bis man damit auch eine ungegenständliche Komposition assoziieren kann. Im Gemälde „Cos Cob“ verewigte sie 1926 die zarten, grünen Blätter des sogenannten Stinkkohls – einer ungeliebten Pflanze, deren Schönheit O’Keeffe dennoch für abbildungswürdig hielt. Selbst im Fall des frühen Werkes „Blue and Green Music“, mit dem sie 1919 Töne in etwas Sichtbares verwandeln wollte, spürt man ihre Nähe zum Floralen: Die Musik erinnert an bewegtes Schilf.
Im wahren Leben war Georgia O’Keeffe stolz auf ihre selbst gezogene, kiloschwere Tomate. Sie pflanzte Ringelblumen an, um ihren Garten biologisch von Insekten freizuhalten. Liebstöckel sei ihr Lieblingskraut gewesen, weiß Wood, und ein Knoblauchsandwich immer willkommen. Die Äpfel kamen ungeschält zusammen mit Zimt und Nüssen in den Kuchen. Was nicht schmeckte, war laut O’Keeffe „nicht mit Liebe gemacht“. Margaret Wood blieb fünf Jahre, obwohl sie alle paar Monate über eine Kündigung nachdachte. „A health nut“ hat sie ihre Chefin genannt – und Nüsse haben, so gesund sie sein mögen, nun mal eine harte Schale. Wood lernte Georgia O’Keeffe von jener kompromisslosen Seite kennen, für die sie auch vorher schon bekannt war. Es sei einfach, mit ihr zusammenzuarbeiten – wenn man exakt das täte, was sie erwarte, bilanzierte etwa Lloyd Goodrich, als er 1970 für sie eine Ausstellung im Whitney Museum of American Art mit 120 Gemälden kuratierte.
Wie weit die Lady auf der Ranch von jener Ikone entfernt war, zu der sie Alfred Stieglitz einst fotografierend gemacht hatte, lässt zum einen der Ausstellungskatalog „Georgia O’Keeffe“ ahnen, der 2016 im Prestel Verlag erschienen ist und sich intensiv mit der Konstruktion ihrer Künstlerpersönlichkeit befasst. Zum anderen ist da Calvin Tomkins mit seiner prägnanten, wunderbaren Geschichte. Er schrieb für den New Yorker, als „Dinner with Georgia O’Keeffe“ herauskam, über sein eigenes Essen mit der Künstlerin. Im Jahr 1973 besuchte er sie in Santa Fe. Die Köchin hatte frei, deshalb beschloss O’Keeffe, selbst ein Hähnchen in den Backofen zu schieben. Später, als sie merkte, dass es nicht brutzelte, kniete sich die Künstlerin vor den Ofen und spähte in die Röhre, noch bevor ihr Tomkins seine Hilfe anbieten konnte. „Fast zeitgleich gab es einen Blitz und Knall“, erinnert er sich. Als Georgia O’Keeffe wieder aufstand, war eine Augenbraue aus ihrem Gesicht verschwunden, die andere angesengt. Die Künstlerin quittierte das Malheur mit einem dünnen Lächeln. „Dann wird es wohl heute kein Hähnchen geben“, hörte er sie sagen. Seine Geschichte endet hier, doch man darf annehmen, dass O’Keeffe kurz in den Garten ging, um etwas Vegetarisches zu holen.
„Georgia O’Keeffe“,
Centre Pompidou, Paris
8. September bis 6. Dezember 2021