Immersive Kunst

Vom Glitzern der Pixel

Das Gesamtkunstwerk ist zurück: Immer mehr Ausstellungen setzen mit virtuellen Räumen oder großen Lichtinstallationen auf das Zauberwort immersiv. Wenn die Inszenierung gelingt, sorgt sie für emotionale Erlebnisse – und sogar für Erkenntnis

Von Tim Ackermann
20.10.2021
/ Erschienen in WELTKUNST Nr. 190

„Ich denke, dass wir vor einer neuen Epoche stehen – und die heißt Digital Art oder ,Immersive Kunst‘“, sagt Lars Hinrichs. 2016 sah der Hamburger zum ersten Mal ein Werk des japanischen Künstlerkollektivs teamLab. Die Fondation Maeght bei Nizza zeigte damals die Monitorarbeit „Cold Life“, in der sich ein virtueller Raum mit farbig leuchtenden Pinselstrichen aus Daten füllt, die sich wie Spinnenweben allmählich zu einer Skulptur verweben: Ein Geflecht aus Zweigen verwandelt sich in das japanische Schriftzeichen für „Leben“ und dann zu einem transluzenten Baum, in dessen Krone Blüten erscheinen und Schmetterlinge flattern. „Ich war gefesselt von der Perfektion des Werks. Davon, dass in seinem Ablauf nichts ruckelte, obwohl seine Programmierung sehr kompliziert war“, erzählt Hinrichs. Ein paar Monate später betrat er eine Rauminstallation der Japaner in Tokio. Danach, so sagt der 44-Jährige, sei er endgültig zum Fan avanciert. Seitdem arbeitet der Unternehmer und Gründer des Business-Netzwerks Xing daran, diese Kunst in seiner Heimatstadt zu zeigen: 2024 soll sein Digital Art Museum in der Hamburger Hafencity eröffnen. Eine Dauerausstellung mit den immersiven Räumen von teamLab.

„Ich bin ein hundert Prozent digital denkender Mensch. Alles, was digital sein kann, wird digital werden. Insofern ist es logisch, dass auch die Kunst eine digitale Reise vor sich hat“, sagt Hinrichs. Wer immer noch fürchtet, dass Pixel nicht an die emotionale Wärme von Ölfarbe heranreichen, mag sich vielleicht von den Szenen im Mori Digital Art Museum in Tokio beruhigen lassen, wo Besucher vor Wasserfällen aus Licht verharren oder versuchen, auf der Wand schwimmende Fische zu erhaschen. „Diese Verschmelzung von analoger und digitaler Realität ist genau das, was diese Werke ausmacht“, erklärt Hinrichs. „Kunst wird zum Leben erweckt, wenn die Menschen auf der emotionalen Ebene berührt werden. Und teamLab erschafft ein Erlebnis, das fasziniert, weil es ohne den üblichen Abstand zwischen Kunst und Betrachter funktioniert. Es ist mehrdimensional, multisensorisch, und die Besucher tauchen förmlich in die Kunst ein. Sie können sie verändern und werden ein Teil von ihr.“ In Japan, fügt der Unternehmer hinzu, sei die durchschnittliche Verweildauer in der Ausstellung zweieinhalb Stunden. „Und egal wen Sie danach sehen, ob ein Kind oder einen alten Menschen, alle verlassen das Museum mit einem Lächeln im Gesicht!“

Ein Museum für die digitale Kunst

Zwischen 20 und 25 Werke soll das Digital Art Museum zeigen. Die Architektur wird maßgeschneidert: „Wir bauen das Haus für teamLab“, sagt Hinrichs. Über 7000 Quadratmeter Fläche, Deckenhöhen zwischen sieben und 15 Metern – wie greifbar ist das ganze Projekt? „Die Finanzierung steht, die Bauanträge sind eingereicht. Es gibt kein Zurück mehr“, erklärt der Bauherr, der die 45 Millionen Euro für das Gebäude und die aufwendige Technik selbst bezahlt. Mit 700 000 Besuchern rechnet Hinrichs pro Jahr. Es scheint nicht zu hoch gegriffen, denn die Fangemeinde der immersiven Kunst wächst, und teamLab plant bisher kein weiteres dauerhaftes Ausstellungshaus in Europa.

Popularität und Erkenntnis, das ist die gute Nachricht bei der immersiven Kunst, müssen sich ja nicht ausschließen. Wer in der Schau „Willkommen im Paradies“ des Düsseldorfer NRW-Forums (bis 9. Januar 2022) per Smartphone in Christiane Pescheks Werk „Eden“ (2020) abtaucht, der landet in einem esoterisch-technoiden Selbstfindungstrip und lernt etwas über die Unwichtigkeit des eigenen Körpers. „Wenn ich darüber nachdenke, mit welchem Weltbild wir den Klimawandel oder die großen Herausforderungen der gesellschaftlichen Entwicklung meistern wollen, sind immersive Prozesse eben einerseits die Treiber in der Evolutionsgeschichte des kapitalistischen Systems – die neuen Wertschöpfungen haben sehr viel mit immersiven Prozessen und Datenökonomie zu tun –, und andererseits ist unsere Faszination für das Indigene, für Gaia, für die Natur zutiefst verbunden mit der Auflösung eines alten dialektischen Schemas, das auf Gegenüberstellungen und Subjekt-Objekt-Beziehungen beruht“, sagt Thomas Oberender. „Letztlich geht es darum, dass wir mit diesem Da-bin-ich-nicht-Teil-davon-Denken einfach mal aufhören.“ Nach seinen Worten sind wir längst im Reich der Pixelfee aufgewacht. Jetzt sollten wir mit ihr Freundschaft schließen.

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