Handschriftliche Zeugnisse von Künstlerinnen und Künstlern geben Einblicke ins Private und in den Schaffensprozess. Ein faszinierendes Sammelgebiet
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03.11.2021
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Erschienen in
WELTKUNST Nr. 189
Leonardo da Vinci war ein Universalgenie: ein Maler, Zeichner, Bildhauer und Architekt, der sich jedoch auch mit den Naturwissenschaften, der Medizin und der Technik beschäftigte. Er schrieb mit einer winzigen, kritzeligen Handschrift spiegelverkehrt von rechts nach links. Hunderte von Skizzen versah er mit Textkommentaren aus seiner charakteristischen Feder. Seine Gemälde von unschätzbarem Wert hängen in den wichtigsten Museen. Aber auch seine Schriftzeugnisse, die Autografen, gehören zum Kulturerbe der Menschheit. Eines dieser eigenhändigen Schriftzeugnisse Leonardos, der Codex Leicester, wurde 1994 bei Christie’s New York mit Aufgeld für 30,8 Millionen Dollar versteigert. In dem 72-seitigen Manuskript geht es vor allem um naturwissenschaftliche Erkenntnisse, doch illustrierte der Forscher seine Texte mit detailreichen kleinen Skizzen, die immer wieder den großen Künstler durchscheinen lassen. Der Käufer war der Microsoft-Gründer Bill Gates, das teuerste Autograf aller Zeiten gehört ihm bis heute.
Autografen sind „Selbstschriften“, Manuskripte, Dokumente, Urkunden, Briefe, Postkarten, Albumblätter oder Buchwidmungen einer bekannten Persönlichkeit, eines Forschers, Literaten, einer Musikerin oder Künstlerin. Jedes Autograf ist ein Unikat mit der unverwechselbaren Handschrift seines Autors. Das ist eine der Erklärungen für die immer wieder erreichten Rekordpreise, und es das ist auch der Grund, warum Autografen zu einem der vielfältigsten, spannendsten und individuellsten Sammelgebiete gehören – eine intellektuell höchst anregende Passion. Doch keine Angst: Sie müssen nicht gleich Millionen ausgeben, meist reichen schon wenige Hundert Euro, um ein wirklich interessantes und inhaltlich bedeutendes Stück zu erwerben.
Unter den Autografen nehmen die Künstlerautografen eine Sonderstellung ein. Denn neben den schriftlich formulierten Gedanken der Künstlerinnen und Künstler finden sich nicht selten auch Illustrationen in Form von Skizzen, Zeichnungen, Aquarellen bis hin zu kleinen Druckgrafiken, mit denen die Texte geschmückt sind. Sammelnde werden doppelt beglückt: Bieten die geschriebenen Texte die Möglichkeit, an einem temporären Gedanken, an einer schöpferischen Idee ganz unmittelbar teilzuhaben, so äußert sich in einer Entwurfskizze das „Kunstwollen“ desselben Augenblicks.
Anders als die vollendeten Kunstwerke, die Gemälde, Skulpturen oder Bauten, geben Autografen einen privaten Einblick in das alltägliche Leben von Kunstschaffenden. Ihr Ringen um die Form und die damit verbundenen Schwierigkeiten, aber nicht selten auch ganz banale Alltagsprobleme werden hier thematisiert. Im Gegensatz zu Entwürfen, die den Kunstwerken vorausgehen, drücken sich Künstlerinnen und Künstler in Autografen nicht visuell, sondern in Worten aus, die wir ganz unmittelbar verstehen. Sie schreiben an Freunde, geliebte Menschen, die Familie, Geldgeber, Fürsten und Potentaten, an Händler und Museumsleute. Dabei waren diese Schriftstücke nicht für die Öffentlichkeit bestimmt gewesen. Wer sie liest, wird zum Zaungast und bekommt die Chance, hinter die Kulissen zu blicken. Das Intime, das Private, aber auch das Flüchtige des Augenblicks machen den besonderen Reiz aus. Hinzu kommt die historische Aura: Die Vorstellung, dass über ein authentisches Stück Papier die schreibende Hand eines Großen der Weltgeschichte ging, einer berühmten Künstlerin oder eines Musikers, ist eine der wichtigsten Motivationen des Sammelns.
Nüchtern betrachtet ist ein Autograf ein Sammlerstück von minimaler Materialität, ein paar geleimte Papierfasern mit einem bisschen getrockneter Tinte. Ein Wasserbad, ein Zündholz oder ein Schredder könnte es in einer Sekunde vernichten. Doch welch ein unermesslicher Zauber breitet sich aus, wenn man anfängt, die Signatur zu deuten, die Schrift zu entziffern, den Inhalt zu erfassen. Wenn man das Relief der Bütten und der Tintenstriche unter den Fingern spürt, den Klang des Blattes vernimmt, dessen Geruch atmet, sich ehrfürchtig dem schreibenden Menschen nähert, sich des Alters des Schriftstücks und seiner Historizität bewusst wird.
Kaum jemand kann sich der Faszination des großen spanischen Malers Francisco de Goya entziehen. Seine Gemälde und grafischen Zyklen sprechen mit genialischer Kraft zu uns, wenn wir sie in den Museen der Welt betrachten. Aber bekommen wir nicht eine Gänsehaut, wenn wir einen originalen Brief von seiner Hand vor uns haben, der Hand, die den „Koloss“, die „Erschießung der Aufständischen“, die bekleidete und die nackte „Maja“ oder den Ungeheuer gebärenden „Schlaf der Vernunft“ geschaffen hat?
Das Berliner Auktionshaus Stargardt brachte 2006 einen Brief Goyas zum Aufruf, in dem dieser seinen „mayor Amigo“ Joaquin Ferrer am 28. Oktober 1824 bittet, Maria, die Tochter seiner Geliebten und Haushälterin Leocadia Zorrilla Weiss, bei sich aufzunehmen: „Dieses reizende Geschöpf will die Miniaturmalerei erlernen, auch ich wünschte es, denn es ist vielleicht das größte Wunder der Welt, in ihrem Alter das zu machen, was sie macht. Sie besitzt sehr schätzenswerte Qualitäten, wie Sie sehen werden, wenn Sie mir die Ehre antun wollen, zu der Erfüllung beizutragen.“ Im spanischen Original liest sich das Autograf noch suggestiver, man taucht ein in die Diktion und die Sprachgepflogenheiten der Epoche Goyas und kann mit dem inneren Ohr den Tonfall des Aragoniers hören. Der auf 16 000 Euro geschätzte Brief wurde dann bei 45 000 Euro zugeschlagen.
Goyas Zeitgenosse Johann Wolfgang von Goethe war ein leidenschaftlicher Autografensammler, der im Laufe seines Lebens eine beachtliche Kollektion von Schriftstücken bedeutender Personen zusammentrug. In vielen seiner eigenen Schriften äußerte er sich über die Aura des Originals, wenn er etwa über einen eigenhändigen Brief Friedrichs des Großen bemerkt: „Das Blatt, wo seine Hand geruht, die einst der Welt geboten.“ Überhaupt hat das Autografensammeln eine große Tradition unter Literaten, von Goethe über Eduard Mörike bis zu Stefan Zweig.
Vor allem bei Letzterem, dem Autor der „Sternstunden der Menschheit“ oder der „Schachnovelle“, bietet sich ein literarischer Einstieg an, um mit der Leidenschaft des Sammelns, des Jagens nach seltenen Stücken, des Lesens und Entzifferns der handschriftlichen Zeugnisse „auf Tuchfühlung“ zu gehen. „Die Welt der Autografen ist keine unmittelbar sichtbare und sinnliche Welt: Sie ist fühlbar einzig durch Fantasie, erkenntlich erst durch Bildung und gastlich nur jenen, die ihr Verständniswillen und die nicht allzu häufige Begabung zur Ehrfurcht entgegenbringen“, schrieb Zweig 1923 in seinem Artikel „Vom Autographensammeln“ in der Vossischen Zeitung. Und er fragte: „Wo ruht also jene geheimnisvolle Macht, solcher Urschrift, die doch von einem solchen unscheinbaren Papier eine rätselhafte Ausstrahlung, eine Emanation ausgehen lässt, unsichtbar und doch unverminderbar?“
Das Sammeln von Autografen lässt sich bis in die Renaissance zurückverfolgen. Mit der Hervorhebung des Individuums, der Entwicklung selbstbewusster Künstlerpersönlichkeiten und dem an die Antike anknüpfenden Kult um bedeutende Gestalter der Geschichte fingen Menschen an, Zeugnisse ihrer Idole zu sammeln. Sie erjagten, bewahrten und handelten die wertvollen Blätter wie Reliquien. Zunächst ging es dabei nur um eine eigenhändige Signatur auf einem Stückchen Papier, das meist unter einen Porträtdruck der entsprechenden Person montiert wurde. Der Maler Lucas Cranach der Jüngere etwa zeichnete Porträts der Reformatoren Luther, Melanchthon, Justus Jonas oder Johannes Bugenhagen, die er sich von diesen eigenhändig signieren ließ. Der größte Autografensammler der Spätrenaissance war der kurpfälzische Staatsmann Ludwig Camerarius (1573–1651), der, neben anderem, Briefe, Manuskripte und Handschriften von Luther und dessen Zeitgenossen sammelte.
In derselben Zeit entwickelt sich auch das Stammbuch aus dem mittelalterlichen Wappenbuch. Letzteres hatte adeligen Reisenden wie eine Art Personalausweis zur Identifikation ihrer Person bei fremden Höfen gedient. Es verselbstständigte sich dann als Freundschaftsalbum, als „Album amicorum“, in dem sich Studenten an den verschiedenen europäischen Universitäten die Wappen ihrer Professoren und Kommilitonen malen ließen, oft mit einem Motto oder Sinnspruch versehen. Berühmt ist die Szene in Goethes „Faust“, in der Mephistopheles von einem übereifrigen Studienanwärter um einen Eintrag gebeten wird: „Ich kann unmöglich wieder gehn, / Ich muss euch noch mein Stammbuch überreichen, / Gönn’ Eure Gunst mir dieses Zeichen!“ In allen Universitätsstädten gab es Wappenmaler, die auf Aufträge für solche Widmungen warteten.
Während der Romantik mutierte das Stammbuch zu einem Poesiealbum, das nicht nur Gedichte, sondern auch Zeichnungen, Aquarelle, Klebearbeiten, Haarlocken, Scherenschnitte und vieles mehr enthielt, immer freilich als persönlichen Gruß eines Freundes an den Besitzer. Dieser konnte sich dann mit seinen Bekanntschaften und deren geistreichen Einträgen rühmen. Stammbücher gehören zu den schönsten Sammelobjekten unter den künstlerischen Autografen.
Ein Hauptwerk unter den Freundschaftsbüchern der Romantik ist das 1830 in Italien entstandene „Rehberg-Album“ mit 26 Zeichnungen, Aquarellen und Gouachen von Künstlern aus dem Umkreis der Deutsch-Römer, darunter Friedrich Nerly, Johannes Riepenhausen und Bertel Thorvaldsen. Im Frühjahr 2018 konnte Stargardt das Werk dem Museum August Kestner in Hannover für 80 000 Euro zuschlagen. Ein glücklicher Verkauf, denn der Gründer und Namensgeber des Museums – Jurist, Diplomat, Archäologe und Kunstsammler, der 36 Jahre in Rom lebte – hat
das Erinnerungsalbum um 1830 für den hannoverschen Staatsmann August Wilhelm Rehberg in Erinnerung an dessen Italienreise zusammengestellt.