Schonungslos realistisch war er, düster und brutal: Francisco de Goya. In Basel widmet ihm die Fondation Beyeler nun eine spektakuläre Ausstellung, die einen der letzten großen Hofkünstler zugleich als Wegbereiter der Moderne vorstellt
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04.11.2021
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Erschienen in
WELTKUNST Nr. 192
Zwei Selbstporträts gibt es, die unter all diesen faszinierenden, rätselhaften, erschreckenden Bildern das, worum es in der Kunst des Francisco José de Goya y Lucientes geht, besonders treffend auf den Punkt zu bringen scheinen. Das eine stammt aus der Sammlung des Prado in Madrid, Goya malte es 1815, im Alter von 69 Jahren: Das Gemälde ist nicht viel größer als ein DIN-A 4-Blatt und zeigt den Maler als einen Mann, der zweifelt. An sich, seiner Gesundheit, an den Menschen, denen er begegnet und an den politischen Verhältnissen.
Fünf Jahre später malt sich Goya als einen Mann, der stirbt. Auch dieses Bild ist in der Ausstellung zu sehen, es kommt als Leihgabe des Minneapolis Institute of Art zur großen Schau „Goya“ der Fondation Beyeler in Riehen bei Basel. Das „Selbstbildnis mit dem Arzt Arrieta“ ist im Format dreimal so groß. Nun nimmt der Künstler nicht mehr nur das Leid der Welt auf sich. Er ist im Begriff, daran zugrunde zu gehen. Kaum noch bei Sinnen dreht er, der Ohnmacht nahe, den Kopf zum rechten Bildrand hin. Gehalten wird er von einem Jüngeren im bürgerlichen Gewand, der ihm ein Glas mit einer cognacfarbenen Flüssigkeit an den Mund führt. Damals tatsächlich schwerkrank, rettet ihn also nicht der Glaube an Gott oder eine andere höhere Instanz, sondern der Doktor mit seiner Medizin. Diese beiden Werke sind Schlüssel zum Verständnis dessen, was diesen Künstler von den meisten anderen vor und nach ihm unterscheidet. Goya lieferte sich der Malerei in einer beispiellosen Schonungslosigkeit aus. Und das betraf seine inneren Visionen und Fantasien ebenso wie die äußeren Bilder – jene, die ihm seine Neugier auf die Welt und alle ihre Erscheinungen darbot. Das Entscheidende dabei ist die Anzahl an Antworten, die er mit seinen Gemälden, Skizzen, Zeichnungen und Grafiken gab: nie eine einzige, eindeutige, klar verständliche. Es waren immer viele, und sie waren oft auch widersprüchlich und nicht zwangsläufig angenehm. „Das Besondere an Goyas Kunst ist“, sagt Martin Schwander, der Kurator der Ausstellung in der Fondation Beyeler, „dass sie immer wieder Türen zu neuen Fragen öffnet, auch zu Befragungen von uns selbst als Betrachterinnen und Betrachter.“ Deshalb werde Goya heute noch als ein so aktueller, zeitgenössischer Künstler empfunden. Und das gehe genau genommen schon seit dem 19. Jahrhundert so: „Es gibt kaum einen anderen Künstler“, sagt Schwander, „der eine so ungebrochene Erfolgsgeschichte hat wie Francisco de Goya.“
Mehr Fragen zu stellen, als Antworten zu geben, das ist auch der Grund, warum ein Maler, der Mitte des 18. Jahrhunderts geboren wurde, im Jahr 2021 in der an sich der klassischen Moderne gewidmeten Fondation Beyeler ausgestellt wird. „Goya“, sagt Schwander, „hat diese Ambivalenzen in seinen Bildern, mit denen er ständig zu hinterfragen scheint, was man für das tägliche Leben als gegeben voraussetzen kann. Das macht ihn zu einem der Begründer der Moderne.“ Beispiellos ist auch die Schau, die die Fondation Beyeler in Zusammenarbeit mit dem Museo Nacional del Prado in Madrid organisiert hat. Vor 16 Jahren fand in der Alten Nationalgalerie in Berlin und anschließend im Kunsthistorischen Museum in Wien die erste große Goya-Ausstellung im deutschsprachigen Raum statt. Damals wurden dafür rund fünfzig seiner Gemälde versammelt – in Riehen ist es jetzt noch einmal die Hälfte mehr: fünfundsiebzig. Und darunter befinden sich auch solche, die nicht nur seit ihrer Entstehung im Besitz ein und derselben Familie sind, sondern die Spanien auch seit über 200 Jahren nicht verlassen haben. Dazu kommen rund fünfzig Handzeichnungen, die meisten davon aus Goyas berühmten acht Skizzenbüchern, und weitere fünfzig Grafiken.
Im letzten Raum des Rundgangs präsentiert die Fondation Beyeler eine Arbeit von Philippe Parreno. Der Franzose, einer der profiliertesten Künstler der Gegenwart, ist einer derjenigen, die sich heute noch explizit auf Goya beziehen. Parreno hat in dem Raum im Prado einen Film gedreht, in dem Goyas „Pinturas negras“, die „Schwarzen Bilder“, hängen. Die vierzehn Wandbilder, die der Maler vor der Emigration nach Frankreich in den Jahren 1819 bis 1823 im Erdgeschoss und im ersten Stock seines letzten Wohnhauses in Madrid schuf, wurden dort etwa fünfzig Jahre nach ihrer Entstehung von den Wänden genommen, auf Leinwand aufgezogen und als Geschenk ihres Eigentümers, des deutsch-französischen Bankiers Baron Frédéric Émile d’Erlanger, in den Prado gebracht. Sie sind so fragil, dass sie auf immer in ihrem Museum bleiben müssen. Und sie gehören durch ihre oft eigenartigen, allen damals geltenden Regeln zuwiderlaufenden Kompositionen, ihre nahezu monochrome Farbigkeit und ihre zum Teil komischen („Der Hund“), zum Teil verstörenden („Saturn verschlingt seinen Sohn“) Motive zu den bemerkenswertesten Zeugnissen der europäischen Kunstgeschichte. Dank Parrenos Arbeit sind auch sie in der Ausstellung präsent.
Das Eigentümliche und Abseitige, schonungslos Realistische und Brutale, das Düstere und Rabenschwarze, dafür ist Goya vor allem bekannt. Und natürlich für seine ungeschönten Porträts von Angehörigen des spanischen Hofes und des Adels – das sind die Bilder, mit denen er außerhalb Spaniens am häufigsten in den großen Museen vertreten ist, im Louvre in Paris, in der National Gallery in London oder im Metropolitan Museum in New York. Nimmt man dazu noch das persönliche Drama des Künstlers, der nach einer unerklärlichen Erkrankung seine letzten 35 Lebensjahre in nahezu völliger Taubheit verbrachte, hat man das perfekte Rezept für eine Blockbuster-Schau beisammen. Auf nichts davon, weder auf die Radierungen der „Desastres de la guerra“ mit ihren Ermordeten, Verstümmelten, Vergewaltigten und Verhungernden noch auf höfische Bildnisse wie „Der Herzog von San Carlos“ oder die bezaubernde „Bekleidete Maja“, müssen die Besucher in Riehen verzichten.