Gerhard Richter

Gleichgültigkeit und Glaube

Mit seinem heterogenen Werk zwischen Geschichtsmalerei und konzeptuellen Farbtafeln dominiert Gerhard Richter seit Jahren den Kunstbetrieb. Am 9. Februar feiert er seinen 90. Geburtstag. Zwei langjährige Kenner geben Einblick in die Höhen und Tiefen seiner Malerei

Von Eckhart Gillen und Eduard Beaucamp
03.02.2022

Richters Zweifeln und Taktieren, das Befragen und Offenlassen, das Distanzieren und Verunklären in den Fotovermalungen hat ein paradoxes Fundament. Da die Wirklichkeit jede Gewissheit und jeden Sinn verweigert, hält er sich umso emphatischer an ihren „Schein“. 1989 schreibt er: „Der Schein ist mein Lebensthema“. Der Schein ist der Stoff, aus dem seine Malerei ist. Die Fotografie liefert ihm den perfekten Schein der Realität, der ihm mehr Konkretheit und Gewissheit bietet als die Realität selbst. Auch die verschiedenen Bildmodi, die Richter zitiert und die er wie Vorlagen behandelt, sind Verdichtungen des Scheins und damit das Material, aus dem er seine üppigen malerischen Surrogate entwickelt. Nie hat Richter die radikalsten Zweifel der Moderne, etwa Marcel Duchamps Kampagne gegen die „Physiologie der Malerei“, geteilt. Er sagt von sich selbst, er sei eher ein kreatürlicher als ein kreativer Maler.
Den größten Reichtum an „Schein“ aber lieferte ihm die Fotografie. Richter reiste nicht durch die Welt, sammelte Eindrücke und setzte sich der Realität aus, sondern legte ein Fotoarchiv an, seinen viel gerühmten „Atlas“. Das Publikum favorisierte lange Richters Fotovermalungen, die barocken Stadtpanoramen, die betörenden Landschaften, die inbrünstigen Kerzenbilder oder die smarten Mädchenporträts. Man hielt sich dabei an die realistischen Motive und verkannte die „Schein“-Produkte. Die Verwechslungen führten zu Missverständnissen. Die Interpreten wollten den Sinn, die Tendenz oder Moral, die ihnen der Meister der Indifferenz explizit vorenthielt, in den malerisch traktierten Motiven erkennen. So kam es, dass Fotoverwischungen nach Vorlagen aus Richters Familienalben wie „Onkel Rudi“ (das Foto eines SS-Mannes auf Heimaturlaub) oder „Tante Marianne“ – eine Grisaille mit dem Kinderbild von Richters Tante, eines späteren Opfers der Euthanasie, von deren Schicksal der Künstler aber noch nichts wusste, als er das Bild malte – zu politisch-moralischen Bekenntnisbildern und Widerstandsmanifesten hochgestemmt wurden. Der RAF-Zyklus löste Orgien von Debatten zum Thema Engagement oder Neutralität aus.

Bei heiklen, politisch oder moralisch zugespitzten Sujets hat Richter das Prinzip der Prinzipienlosigkeit und die Indifferenz nicht aufrechterhalten können. Kann man den schwer belasteten RAF-Komplex und den Untergang seiner Akteure teilnahmslos inszenieren und in den Raum stellen? Vollends verbot sich das Jonglieren zwischen Sein und Schein, Wirklichkeit und fotografischem Abbild angesichts der grausamsten Tatsachen des 20. Jahrhunderts, des Holocaust. Hier verbürgen Foto und Film eine unabweisbare Realität. Im Bildarchiv des „Atlas“ vermischte der Künstler noch die ungeheuerlichen Fotos mit Alltagsbanalitäten. Auch er verschanzte sich lange hinter der Nachkriegsausrede, dass diese Realität nicht darstellbar sei. Doch dann wollte er „vermalte“ KZ-Fotos auf die Bildstele im Eingangsbereich des Berliner Bundestags platzieren, scheute aber am Ende zurück und ersetzte sie durch drei banale Farbfelder mit den Bundesfarben. Und 2015, siebzig Jahre nach dem Ende der Schrecken, legte er vier abstrakten Monumentalbildern Auschwitz-Fotos zugrunde. Unerkennbar sind sie unter düsterer Rakelmalerei begraben. Nicht einmal die Bildtitel verraten, was hier versenkt ist. Der Sinn liegt beim Betrachter: Hat man es mit Erinnerungen, Verdrängungen oder einem fast blasphemischen, demonstrativen Scheitern zu tun?   

Eduard Beaucamp leitete von 1966 bis 2002 das Kunstressort der FAZ. Immer noch ist er das Kunstgewissen der Nation

Service

Diese Beiträge erschienen zuerst in

WELTTKUNST 99 / 2015

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