Surrealismus

Geboren aus Zufall und Traum

Er begann als literarischer Zirkel, dann wurde der Surrealismus eine der schillerndsten Bildwelten der Moderne. Als Sammelgebiet ist er bis heute so fantastisch wie in seinen wilden Kindertagen

Von Sabine Spindler
25.03.2022
/ Erschienen in WELTKUNST Nr. 196

Wie in Paris waren auch in Brüssel die Dichter die frühesten Wegbereiter des Surrealismus. Der berühmteste belgische Maler sollte René Magritte werden, der schon 1926 dem Kreis beitrat. Während es Dalí auf eine überwältigende Schockwirkung anlegte, war sein Ziel stets die ironische Irritation des Betrachters. Magrittes Malerei ist flächig und plakativ, aber seine Bilder sind voller rätselhafter Einfälle, paradox und widersprüchlich. Er führt die Sinne aufs Glatteis; hinter dem Banalen taucht bei strahlend blauem Himmel das Geheimnisvolle und Verborgene auf. Man kann bei ihm durch einen vorbeifliegenden Vogel hindurchschauen in einen grünen Wald, eine Wolke sitzt auf einem Weinglas, oder eine Eisenbahn steckt in einem Kamin fest, und zwei grüne, pralle Riesenäpfel tragen Karnevalsmasken.

Kritiker werfen Magritte vor, dass er auf Bestellung malte und viele Motive wiederholte. Seinem Marktwert hat das nie etwas anhaben können, er ist und bleibt der teuerste der Surrealisten. Der bedeutendste belgische Maler neben Magritte ist ohne Zweifel Paul Delvaux. In scheinbar antikisierenden Raumkulissen wandeln, wie verloren oder unter Hypnose stehend, meist unbekleidete Frauen. Über allem liegt eine schwere Melancholie. Für diese Bilder geben Sammler Millionen aus. Delvaux’ Grafiken, die auf Auktionen zwischen 1000 und 3000 Euro kosten, besitzen leider nicht die traumhafte Atmosphäre seiner Gemälde.

Starke Frauen

Die Surrealisten schlüpften gern in die Rolle des Bürgerschrecks, des absurden Provokateurs und artifiziellen Bilderstürmers. Höhepunkt ihres Selbstverständnisses als Enfants terribles war 1938 die „Exposition International du Surréalisme“ in Georges Wildensteins Pariser Galerie Beaux-Arts. Es war ein Gruselkabinett. Im Hof saß in einer schwarzen, von Vegetation überwucherten Limousine ein Fahrer mit einem Haifischkopf, im Fond krochen lebende Schnecken über die Schaufensterpuppen-Beifahrerin. In dem grottenartigen Interieur hatte Duchamp 1200 Kohlensäcke an die Decke gehängt, auf dem Boden wucherten Gestrüpp und Laub. Domínguez beschallte den Saal mit Gelächter aus seiner Grammofon-Installation, die so aussah, als hätte der Trichter eine Frau verschluckt und nur die Beine noch nicht heruntergewürgt. An den Wänden Gemälde, die Kunstgeschichte schreiben sollten, etwa Max Ernsts wilder „Hausengel“. Der Österreicher Wolfgang Paalen, der sich 1935 der Gruppe angeschlossen hatte, zeigte in der für ihn typischen verschwommen halluzinatorischen Manier seine „Paysage totémique“, Alberto Giacometti metaphorische Skulpturen. Tausende Besucher schwankten zwischen Beklommenheit und der Lust am Spektakel.

Wo die Surrealisten politisch standen, hatten sie mit Kollekten für die republikanischen Spanienkämpfer gezeigt. Politische Agitation aber lehnten sie ab. Rigoros schloss Breton seinen jahrelangen Mitstreiter Paul Éluard aus, als dieser für die kommunistische Partei Gedichte schrieb. Aber es dauerte nur ein paar Jahre, bis die dunkle Wolke des Faschismus auch Frankreich erreichte und das Savoir-vivre beendete. Anfang der Vierzigerjahre emigrierten die meisten Surrealisten in die USA oder nach Mexiko.

Auf einem jener „Schmetterlinge“, die die Surrealisten in ihren Anfängen wie poetische Flugblätter verteilten, stand die Botschaft: „Wer für die Liebe ist, ist auch für den Surrealismus.“ Man kann den Satz auch umdrehen – wer sich dem Surrealismus hingibt, ist auch in der Liebe offen. Als um 1930 die ersten Frauen, angezogen von den intellektuellen Debatten, in den Kreis der Surrealisten traten, war wohl keiner mehr angetan als Max Ernst. Er verführte die junge Leonora Carrington, begann eine Affäre mit Meret Oppenheim, die später mit ihrer pelzbesetzten Kaffeetasse berühmt wurde. Und kaum in den USA angekommen, wurde Dorothea Tanning Ernsts Geliebte und später seine Ehefrau. Die Rolle, die der einstige Herrenclub den Künstlerinnen zugestand, ist nicht eindeutig. Einerseits waren sie Muse, Modell und Göttin, andererseits wurden ihre Werke als Stimmen einer neuen Kunst in den wichtigen Ausstellungen gezeigt. Tanning schrieb in ihren Lebenserinnerungen, nicht ohne bitteren Beigeschmack: „Die Frau? Nur das eine wussten sie genau, dass sie sie begehrten. Désir, ein gigantisches Fünfletternwort.“

Deutsche Entdeckungen

Keine der Surrealistinnen ließ sich deswegen vom Weg abbringen. Ihr großes Thema war die weibliche Identität, die Selbsterkundung im Reich der Mythen und der Psychoanalyse. In Tannings Augen gab es keine bessere Methode als den Surrealismus, um dem männlichen Normendogma zu entkommen und alternative Erzählungen über sich selbst zu finden. Auf Auktionen lassen sich späte Arbeiten fast aller Malerinnen im unteren fünfstelligen Bereich finden, aber ihre Schlüsselwerke haben die Millionengrenze längst durchbrochen. Das gilt auch für Leonor Fini, deren fein gemalte Szenen weibliche Seelenspiegel zwischen Erotik und Angst darstellen. Der New Yorker Galerist Julien Levy sagte über sie: „Kopf einer Löwin, Anmut eines Engels und Eloquenz des Teufels.“ Die Spanierin Remedios Varo, die 1942 nach Mexiko emigrierte, schuf ironisch-heitere Synthesen aus Natur, Mythos, Symbolen der Psychoanalyse. Und Leonora Carrington, ab 1942 ebenfalls in Mexiko, ließ in ihren magischen Szenen Geister, Tiere und Pflanzen miteinander kommunizieren. Mexiko wurde für eine ganze Reihe von Surrealisten beiderlei Geschlechts ein Sehnsuchtsort. Denn nicht zuletzt schuf dort Frida Kahlo, die das Etikett Surrealistin strikt ablehnte, dem Land einen Platz auf der Landkarte der Kunst.

Fest im Kreis um Breton agierte hingegen Toyen. Sie schuf metaphorisch-abstrakte Landschaften und düstere, rätselhafte Körper, in denen Trotz und Selbstbehauptung mitschwingen. Die tschechische Malerin, der die Hamburger Kunsthalle kürzlich erstmals in Deutschland eine Ausstellung widmete, gehört zu den fast vergessenen Frauen der Bewegung. Kenner aber schätzen ihr Werk, wie Auktionszuschläge zwischen 200 000 und 2,5 Millionen Euro unterstreichen.

Als im vergangenen Jahr das Panorama Museum in Bad Frankenhausen die Ausstellung „Surrealismus in Deutschland?“ ankündigte, war die Fachwelt gespannt. Hier gab es mehr als nur eine Handvoll Künstlerinnen und Künstler, die auf die Pariser Impulse reagierten. Und die Chancen für Sammler, die nicht zu den Happy Few der Dalí- oder Tanguy-Sammler gehören, stehen nicht schlecht. Edgar Ende und seine feingliedrig-fantastische Bilderwelt ist zwar kein Geheimtipp mehr, wird aber moderat gehandelt. Ein frühes Gemälde kostete unlängst bei Van Ham 28 000 Euro brutto. Beeinflusst von Klee, malte Hans Reichel märchenhafte Universen voller Fische und Blumen. Eine „Composition“ von 1927 erzielte im letzten Jahr bei Artcurial 10 400 Euro, sehr viel höher gehen die Preise nicht. August Preusse war ebenfalls ein Schüler Klees. Eine biomorphe Szenerie verkaufte Karl & Faber 2021 für 12 000 Euro. Einen typisch postbretonischen Stil vertritt der Schweizer Autodidakt Walter Grab. Er vereint in seinen Bildern konstruktiv-geometrische Ebenen mit figurativ-narrativen Elementen. Regelmäßig angeboten wird sein Werk im Zürcher Auktionshaus Germann zu Preisen zwischen 1000 und 2000 Franken.

Der Surrealismus bleibt also ein weites Feld. Wer nur auf der Jagd nach den großen Namen ist, könnte auf den Seitenwegen dieses Sammelgebietes einiges übersehen.

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