Kulturerbe im Ukraine-Krieg

„Plünderungen bereiten uns große Sorgen“

Die ALIPH Foundation finanziert ein Notfallprogramm zur Rettung des Kulturerbes der Ukraine. Ein Gespräch mit Sandra Bialystok über Materialbeschaffung, die konkreten Bedrohungen vor Ort und die Erfahrung von Beirut

Von Simone Sondermann
23.03.2022
/ Erschienen in Kunst und Auktionen 5/22

Das klingt schwierig.

Ja, das ist es. Bei der Auslagerung von musealen Sammlungen geht es nicht nur darum, die Werke vor Explosionen und anderen Arten von Angriffen, seien sie gezielt oder kollateral, zu schützen, sondern auch vor der Plünderung. Letzteres bereitet uns große Sorgen. Erst gestern haben wir einen Bericht aus Charkiw bekommen, eines der Museen dort wurde nicht nur Opfer von Zerstörung, sondern es wurde auch geplündert. Es könnte noch mehr solcher Fälle geben, von denen wir einfach nur noch nicht gehört haben.

Glauben Sie, dass die Plünderungen gezielt sind? Geht es dabei vielleicht vor allem um russische Kunst, also um Repatriierung, oder ist das ganz wahllos?

Das wissen wir noch nicht. Wir wissen nicht, ob das gezielt ist oder einfach nur Teil der massenhaften Zerstörung, die es derzeit dort gibt.

Was ist für die Museen am gefährlichsten? Sind es die Bombenangriffe?

Die Bedrohungen sind vielfältig. Das Museum selbst, das heißt das Gebäude, kann zerstört werden, durch gezielte Bombardierung oder als Kollateralschaden. Das bezieht sich natürlich in gleicher Weise auch auf andere Gebäude, insbesondere Regierungsgebäude, die von historischer kultureller Bedeutung sind, oder auf religiöse Kulturstätten wie Klöster und Kirchen. Es geht um das gesamte Spektrum kulturell bedeutsamer Architektur. Und dann sind die Sammlungen in den Gebäuden bedroht, indem sie durch Bombardierungen zerstört werden oder durch Plünderungen verloren gehen können.

Statue in Lwiw Ukraine-Krieg Schutz des Kulturerbes
Eine Statue in Lwiw, aufgenommen am achten Tag des Krieges, die zum Schutz gegen einen möglichen russischen Angriff umwickelt wurde. © Pau Venteo/Europa Press/ABACAPRESS.COM

Wie werden die historischen Stätten und Denkmäler geschützt?

Soweit wir wissen, vernageln die Menschen vor Ort Fenster und Türen der Gebäude, sie stapeln Sandsäcke rund um die Denkmäler, Statuen werden eingewickelt, soweit das möglich ist. Dafür findet auch feuerfestes Material Verwendung, falls vorhanden, damit Güsse im Fall einer starken Explosion nicht schmelzen. Ich habe auch von Odessa gehört, allerdings nur gehört, dazu haben wir noch keinen Bericht, dass Menschen zum Strand gehen und improvisierte Sandsäcke befüllen, um ihre nicht beweglichen Kulturgüter, so gut sie es können, zu schützen.

Gibt es noch andere Organisationen, die sich finanziell für den Schutz des Kulturerbes der Ukraine engagieren?

Stand heute ist mir keine bekannt.

Wird Ihre Organisation die Ukraine auch weiterhin unterstützen? Wollen Sie weitere finanzielle Mittel freigeben?

Ja, die 2 Millionen Dollar sind nur für den Anfang gedacht, um überhaupt den Schutz der Kulturgüter zu erlauben, soweit dies gerade möglich ist. Wir haben da einfach schnell auf den Bedarf vor Ort geantwortet. Für so etwas wurden wir ja gegründet. In Beirut sind wir auch dabeigeblieben. Wir waren jetzt dort, 18 Monate nach der Explosionskatastrophe, um über die nächsten Schritte zu reden. Und so werden wir auch die Ukrainer nicht im Stich lassen und helfen, die kulturellen Stätten wieder aufzubauen, wenn die Zeit dafür gekommen ist.

Klosteranlage St. Michael in Kiew Kulturerbe
Die Klosteranlage St. Michael in Kiew wurde vom Sowjetregime in den Dreißigerjahren gesprengt. In den Neunzigern wurde sie wiederaufgebaut und ist heute Sitz der orthodoxen Kirche der Ukraine. © iStock/Benedek

Haben Sie schon eine Vorstellung von der Dimension der Zerstörungen vor Ort und von der Summe, die nötig sein wird, um zu helfen?

Das ist zu schwer zu sagen, es gibt noch zu wenig Informationen über das Ausmaß des bisherigen Schadens. Wir bekommen jeden Tag Berichte über Kulturstätten, die zerstört wurden. Gestern war es ein Theater in Mariupol, den Tag davor verschiedene Stätten in Tschernihiw. Besonders in Charkiw und Tschernihiw betraf es die historischen Stadtzentren, aber auch Museen. Und dann natürlich das Museum in Iwankiw, nördlich von Kiew, das zerstört wurde …

… das Werke der großen Volkskünstlerin Marija Prymatschenko beherbergte …

Ja, genau. Das war ein großer Schaden gleich am Beginn des Krieges. Hinzu kommt das Museum für Geschichte und Architektur in Wasyliwka, auch bekannt als Popov Manor House, das wurde von russischen Kräften geplündert, und es gab Zerstörungen.

Sie sind in Ihrem professionellen Leben schon oft den Folgen von Krieg und Terror für das kulturelle Erbe begegnet. Wie wird die Ukraine am Ende dieses Jahres aussehen?

(seufzt) Der Krieg dauert erst wenige Wochen, es ist schwer zu sagen. Was uns so bewegt und so betroffen gemacht hat, ist die Widerstandskraft, mit der die Ukrainerinnen und Ukrainer ihr kulturelles Erbe und natürlich ihr Land im Ganzen schützen. Sie arbeiten unermüdlich. Es wird dadurch sehr deutlich, wie wichtig ihnen ihr Kulturerbe ist – für ihre Identität, für das, was sie in der Welt sind und darstellen. Das ist wirklich außergewöhnlich. Sie arbeiten rund um die Uhr dafür. Es fehlt ihnen ja nicht nur das Material, um ihre Kulturgüter zu schützen, hier versuchen wir ja zu helfen, sondern viele Menschen kämpfen in der Landesverteidigung oder fliehen. Die wenigen Menschen, die übrig sind, um das kulturelle Erbe zu schützen, tun dies unablässig und kämpfen so an dieser Front des Krieges. Deshalb ist es sehr schwierig zu sagen, wie die Situation in sechs oder zehn Monaten sein wird. Aber was wir mit Sicherheit sagen können, ist, dass die Menschen, mit denen wir in Kontakt sind, sehr entschlossen sind, alles zu tun, was sie können, um ihr kulturelles Erbe zu verteidigen. Diese Entschlossenheit ist atemberaubend.

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