Seit Jahrhunderten ist das malerische Münchner Umland für die Künstlerinnen und Künstler der Stadt Zuflucht, Atelier und Inspiration. Wir folgen ihren Spuren
Von
24.05.2022
/
Erschienen in
WELTKUNST Nr. 107
Nur rund zwanzig Kilometer nördlich von München liegt Dachau, dessen Name wegen des ehemaligen Konzentrationslagers schreckliche Assoziationen hervorruft. Darüber wird oft übersehen, dass das hoch über dem flachen Umland gelegene Städtchen einen zauberhaften historischen Kern besitzt. Und mit der Dachauer Künstlerkolonie, deren Blüte in die Jahre zwischen 1880 und 1920 fällt, als ein bayerisches Pendant der Barbizon-Schule in die Kunstgeschichte eingegangen ist. Dachau zählt zu den frühen Zentren der deutschen Freilichtmalerei, die hier entstandenen Bilder sind vor allem in der Münchner Neuen Pinakothek und im Schweinfurter Museum Georg Schäfer vertreten. Am Entstehungsort selbst präsentiert die Gemäldegalerie Dachau gegenüber vom Rathaus eindrucksvolle Bestände von den Anfängen bis zur Neuen Sachlichkeit.
Ob Worpswede oder Dachau, die Maler zog es in die freie Natur – nicht in liebliche Parklandschaften wie im 18. Jahrhundert, sondern in unverfälschte, bäuerliche Regionen oder einsame Moore. Statt Landschaftskompositionen hatten es ihnen Naturausschnitte, Lichtstimmungen, das Atmosphärische angetan. Später kamen auch dörfliche Anwesen und ihre Bewohner samt Vieh ins Bild. Ein Grund dafür: Hier lebte es sich billiger als in der Hauptstadt München. Ausschlaggebend für die sich europaweit ausbreitende Freilichtmalerei war die Erfindung der Tubenfarben. Bis dahin konnten die Künstler im Freien nur Skizzen und Studien anfertigen, die Gemälde entstanden im Atelier.
Der Rundgang durch die Dachauer Gemäldegalerie beginnt mit Ansichten des Dachauer Moores von Johann Georg von Dillis. Denn auch den Münchner Galeriedirektor und Akademieprofessor zog es ins Freie. Es folgen stimmungsvolle Bilder von Eduard Schleich d. Ä., Christian Morgenstern, Adolf Lier oder Carl Spitzweg sowie von einer Schar Jüngerer. Zwischen 1893 und 1905 suchten Ludwig Dill, Adolf Hölzel und Arthur Langhammer, die Protagonisten der Künstlerkolonie Neu-Dachau, gemeinsam neue künstlerische Wege. Hölzel, der sich später wie Baumeister und Schlemmer in Stuttgart der Abstraktion zuwandte, ist mit vielen Bilder in seiner Entwicklung zu verfolgen.
Wir begegnen Leo Putz, Heinrich von Zügel, Paula Wimmer, Paul Baum oder Max Feldbauer, dem im Jahr 2016 eine Ausstellung unter dem Motto „Akt und Roß genügen mir“ gewidmet wurde. Ab September 2022 befasst sich die Dachauer Gemäldegalerie mit der zauberhaften Insel Capri, die schon in der Antike ein beliebter Rückzugsort für Künstlerinnen und Künstler war.
Der 1938 gestorbene Maler und Grafiker Hermann Stockmann war 1905 an der Gründung des Heimatmuseums Dachau beteiligt. Heute heißt es Bezirksmuseum und ist nicht weit von der Gemäldegalerie entfernt. Dort finden wir die volkskundlichen Objekte, die uns auf den Bildern begegnen. Wenige Schritte sind es bis zum Schloss, das Max Emanuel zwar prächtig erweitern ließ, von dem jedoch nur noch der Flügel mit dem großen Festsaal erhalten ist. In den 1970er-Jahren kehrte dessen Renaissancedecke aus prächtig ornamentierten Holzkassetten zurück. Sie war 1868 im Bayerischen Nationalmuseum eingebaut worden. Nach dem Zweiten Weltkrieg entfernte man sie von dort, und sie geriet in Vergessenheit, bis zufällig der Dachauer Oberbürgermeister davon hörte. Wenigstens einen kurzen Spaziergang muss man durch den Hofgarten und seinen bezaubernden Laubengang machen, vorbei an Rosenbeeten und Wildblumenrabatten sowie alten Apfelbäumen verschiedener historischer Sorten. Sie sollten einst gewährleisten, dass die Wittelsbacher, wann auch immer sie Lust auf frische Äpfel verspürten, aus der eigenen Zucht bedient werden konnten.
Erdige Brauntöne charakterisieren die Dachauer Moorlandschaft. Sie ist ganz anders als das liebliche „Blaue Land“ um Murnau, jene Voralpenregion, in der sich um die vorletzte Jahrhundertwende Franz Marc, Wassily Kandinsky, Gabriele Münter und deren Malerfreunde aufhielten. Noch heute kann man das Münter-Haus besuchen, wo Kandinsky und Münter wenige, aber entscheidende Jahre lebten und malten. Im Murnauer Schlossmuseum, das auf einem Hügel über dem quirligen historischen Stadtkern thront, stehen ihre Werke im Mittelpunkt. Und der Blick aus einem Fenster spiegelt die Ansicht eines berühmten Gemäldes.
Am Ortsrand von Kochel ist Franz Marc ein eigenes Museum gewidmet. Wenn man an einem Werktag außerhalb der Ferienzeit das Glück hat, kaum Touristen zu begegnen, kann man dort die meditativ-mystische Stimmung seiner Bilder auf sich wirken lassen. Diese Gegend war vor dem Ersten Weltkrieg Ausgangspunkt und Inspirationsquelle der süddeutschen Avantgarde. Hier ist Marcs tief verwurzelte Naturverbundenheit am intensivsten zu erleben. Er wurde zur Identifikationsfigur der Künstlergemeinschaft „Der Blaue Reiter“, zu der er sich im Jahr 1911 mit Kandinsky, Münter und Jawlensky zusammenfand. Siebzig Jahre nach Marcs frühem Tod auf einem Schlachtfeld bei Verdun wurde das Museum eröffnet. 2008 erweiterte das Zürcher Architekturbüro Diethelm & Spillmann es um einen ebenso attraktiven wie zweckdienlichen zweistöckigen Trakt, dessen Panoramafenster einen atemberaubenden Blick in die Bilderbuchlandschaft bietet. Neben Vertretern des „Blauen Reiters“ und der „Brücke“-Expressionisten zeigt das Museum Bilder von Paul Klee sowie abstrakte Kunst aus der deutschen Nachkriegszeit. Es besitzt rund 2000 Werke, davon etwa 80 Prozent Arbeiten auf Papier. Ganze Werkkomplexe berühmter und noch zu entdeckender Künstler bilden den Ausgangspunkt für attraktive und außergewöhnlich interessante Sonderausstellungen.
Nicht weniger spektakulär liegt das Buchheim Museum: am Westufer des Starnberger Sees, inmitten des weitläufigen Parks Höhenried mit seinem herrlichen alten Baumbestand. Die elegante Architektur schmiegt sich so glücklich in die Hügellandschaft, dass man dem großen, 2010 gestorbenen Architekten Günter Behnisch verzeiht, diesen Ort überhaupt bebaut zu haben. Es ist eine Symbiose aus Holz und Glas mit Anklängen an den Schiffsbau und einem zwölf Meter langen Steg über den See. Lothar Günther Buchheims Expressionistensammlung mit Gemälden aus den besten Jahren der „Brücke“-Künstler ist das Herzstück des im Jahr 2001 eröffneten Hauses. Hinzu kommen Meisterwerke von Alexej Jawlensky, Otto Mueller oder Emil Nolde, von Lovis Corinth oder Max Beckmann, aber auch des weniger bekannten Max Kaus. Zahlreiche Bilder erstrahlen einzeln an Stellwänden und bieten einen ungeteilten Kunstgenuss. Auch hier locken Sonderausstellungen immer wieder ins Haus. Zudem verfügt das sogenannte Muse- um der Phantasie über verschiedenste Abteilungen, die Vergnügen bereiten mögen, mit Kunst jedoch weniger zu tun haben.
Zum Schluss unserer Zeitreise geht es nach Tegernsee, wo der gebürtige Norweger und international gefeierte Künstler Olaf Gulbransson von 1929 bis zu seinem Tod 1958 mit seiner dritten Frau lebte. Kaum zu glauben, dass das wohlbeleibte Urgestein, das dem Schweinsbraten halbmeterweise zusprach, ein Meister so zarter Gemälde, klarliniger Zeichnungen und pointierter Karikaturen war. Ihnen wird der zeitlos-moderne Museumsbau gerecht, den der Architekt Sep Ruf 1966 gebaut hat. Das Grundstück stellte kein Geringerer als Herzog Ludwig Wilhelm von Bayern zur Verfügung.
Der Besuch des Museums stimmt heiter. Ein Saal ist Gulbranssons hellen Gemälden vorbehalten, der durch seinen Berliner Malerfreund Max Liebermann zur Ölmalerei fand. Seine geistreichen Titelblätter der Satire-Zeitschrift „Simplicissimus“ nehmen breiten Raum ein. Ebenso die Originalausgaben mit seinen Buchillustrationen, deren vielleicht bekannteste Ludwig Thomas „Lausbubengeschichten“ bebildert. Seit 2007 besitzt das Haus einen beachtlichen Bestand an Lithografien von Honoré Daumier, sodass auch in diesem Museum regelmäßig Sonderschauen arrangiert werden können.
Ein letztes, kleines Elysium des Münchner Kunstumlandes sei noch gerühmt. Von allen genannten Zielen im südlichen Oberbayern lässt sie sich auf dem Rückweg in die Stadt bequem ansteuern: die verwunschene Roseninsel in der Feldafinger Bucht. Sie ist die einzige Insel im Starnberger See und nur mit einem Fährboot zu erreichen. Es gibt dort keinen Autoverkehr und keine Hunde, weder Gaststätte noch Übernachtungsmöglichkeit. Cineasten ist die Roseninsel wohlbekannt. Luchino Visconti drehte hier 1972 für seinen Film „Ludwig II.“ ein Treffen von Sissi alias Romy Schneider mit dem schönen Helmut Berger als Märchenkönig.
Der Park und der Rosengarten werden vom einzigen Bewohner der Insel, dem Gärtner, gepflegt. Das Idyll wurde 1850 von Maximilian II. erworben und gehört seit 1970 dem Freistaat. Der König ließ die Insel von Peter Joseph Lenné, dem damals bedeutendsten deutschen Gartenarchitekten, und dem Ingenieur Franz Jakob Kreuter umgestalten. Sie errichteten das „Casino“, ein pompejanisch inspiriertes Sommerschlösschen mit Rosengarten, in dem man sich an Hunderten von hochstämmigen Duftrosen berauschen kann, bevor man in die hektische Alltagswelt zurückkehrt.