Absinth: geliebt, gehasst, getrunken. Viele Werke der Kunstgeschichte und der populären Grafik wissen nichts vom Genuss des Trinkens, sondern erzählen von Einsamkeit und Trostlosigkeit
Von
14.07.2022
/
Erschienen in
Kunst und Auktionen 12/22
An die Seite der zum Absinth-Genuss ermunternden Plakate lassen sich deshalb nicht wenige stellen, die – meist drastisch – die Gefahren des Alkoholismus beschwören. Den grafischen Einfallsreichtum der Pro-Absinth-Werbung erreichen sie allerdings kaum. Eine Ausnahme ist der Totenschädel von F. Monod, aus dessen Kiefern bedrohlich in großen Buchstaben quillt: „L’Absinthe c’est la mort!“ Sonst aber sind umständlich moralisierende Texte vorherrschend. „Die Absinthtrinker sterben alle an Tuberkulose, Wahnsinn oder Paralyse“, behauptete 1897 das Flugblatt einer Gesellschaft zur Bekämpfung des Alkoholismus in Paris. „Getränk des Teufels“ nannten ihn christliche Temperenzler in den USA. Und in der Schweiz traten vor allem die Blaukreuzler unter dem Motto „Evangelium und Abstinenz – mit Jesus und ohne Alkohol“ für ein Verbot ein. Jahrelang vergeblich.
Doch dann erregte ein Mord im Waadtland nicht nur die Schweiz. 1905 hatte der Weinbergarbeiter Jean Lanfray seine schwangere Frau und seine beiden kleinen Töchter umgebracht. Jedoch nicht der Wein und der Branntwein, dem er überaus reichlich zugesprochen hatte, sollen der Auslöser gewesen sein, sondern die zwei Glas Absinth, die er zuvor konsumierte. Belgien verbot das Getränk daraufhin noch im selben Jahr. In Frankreich löste der Fall eine Kampagne aus, die ein wenig zwiespältig war, wie das Schulwandbild „L’Alcohol! Voilà l’Ennemi“ verrät. Es führt einen Mann „Avant“ und „Apres l’alcoolisme“ vor. Und drastisch – wie auf heutigen Zigarettenpackungen – sind darunter Leber, Herz und Magen abgebildet. Einerseits gesund, andererseits völlig durch den permanenten Absinth-Konsum ruiniert. Außerdem werden links „Vin, Cidre, Poiré und Bière“ als gute „natürliche“ Getränke, rechts aber die aus Rüben, Kartoffeln und Getreide gebrannten schlechten „industriellen“ Produkte vorgeführt. Denn zu den eifrigen Befürwortern des Absinth-Verbotes in Frankreich gehörten die Winzer. Erfolg hatten sie jedoch erst 1915. Obwohl ein Plakat, vom Volk umjubelt, mit der „grünen Fee“ auf dem Scheiterhaufen warb: „Die französische Grüne Fee wird sich ihrer Schweizer Schwester anschließen“.
In der Schweiz stand das Absinth-Verbot bereits seit der Volksbefragung von 1910 in der Verfassung. Das karikierte der Genfer Albert-Henri Gantner in der satirischen Zeitschrift Guguss in der Person eines Bigotten mit dem blauen Kreuz auf der Brust und der Bibel unter dem Arm, der seinen Fuß auf die gemeuchelte „grüne Fee“ setzt, der die Kantone Neuchâtel (als Hauptproduzenten) und Genf sowie die „Freiheit des Individuums“ Kränze gespendet haben, während im Hintergrund Helvetia weint. Als Frankreich nachzog, griff Gantner das Thema mit „La Fin de la Fée Verte“ erneut auf. Nun ist es Raymond Poincaré, der Präsident der Republik, der stolz das „Décret ministériel“ vom Januar 1915 in die Höhe hebt, während hinter ihm die erste Schlacht des Krieges geschlagen wird. Vor ihm liegt die „grüne Fee“, wiederum mit einem Schwert mit dem blauen Kreuz als Griff gemordet. Dass im schweizerischen Val-de-Travers, der Absinth-Hochburg, weiterhin gebrannt wurde – schwarz natürlich – änderte nichts.
Absinth war jedoch nicht nur ein Thema der populären Grafik. Schließlich galten Bohème und Absinth fast als Synonyme. Beim Genremaler Jean Béraud hatten Mann und Frau im Café, ob sie einen Brief schrieben oder Backgammon spielten, stets Absinth auf dem Tisch. Als eine Selbstverständlichkeit ohne moralisierende Nebentöne. Anders bei Honoré Daumier, der die Verführungskraft drastisch mit „Le premier verre, le sixième verre“ am Beispiel zweier Männer in einem Café vor dem ersten und vor dem sechsten Glas charakterisiert. Diese Ambivalenz zwischen Rausch und Kater prägt viele Kunstwerke der Zeit. Van Gogh, Gauguin, Degas, Manet, Toulouse-Lautrec, Félicien Rops sollen ihm nicht nur malerisch reichlich Tribut gezollt haben. Wohl nicht ohne ein gewisses Unbehagen. Denn ihre Bilder wissen nichts vom Genuss des Trinkens. Sie erzählen von Einsamkeit, Trostlosigkeit. Das spiegelt sich in Bildern, die recht ambivalent Mann und Frau in den Fängen der „grünen Fee“ zeigen wie auf Degas’ „Dans un café (L’absinthe)“ mit dem trübsinnigen Paar an einem Tisch. Oder bei Manets lebensgroßem „Buveur d’absinthe“, seit 1917 in Kopenhagens Ny Carlsberg Glyptotek, mit dem vollen Glas auf einem Mauerabsatz neben sich und der leeren Flasche zu Füßen, einem der frühesten Gemälde (auch als Aquatinta), das die Misere des Trinkers erfasst. Auch Picasso kam immer wieder auf das Thema zurück. „La buveuse d’absinthe“, eine Frau, die mit aufgestütztem Arm sinnierend an einem Tisch mit Absinth-Glas und Flasche sitzt, hat er um 1900 gut ein halbes Dutzend Mal gemalt. Und auch der Harlekin „Au Lapin agile“ von 1905 greift nach dem Glas. Dieses camouflierte Selbstbildnis soll Picasso für eine Mahlzeit dem Wirt überlassen haben, der es später für 20 Dollar verkaufte. 1989 war es mit 37 Millionen Dollar der damals zweitteuerste Picasso.
Inzwischen wird es von einem anderen seiner Absinthtrinker übertroffen, dem „Porträt von Angel Fernández de Soto“ aus dem Besitz des Musicalkomponisten Andrew Lloyd Webber, das nach einem längeren Restitutionsstreit im Juni 2010 bei Christie’s für 31 Millionen Pfund zugeschlagen wurde. Mit Aufgeld sind das 52 Millionen Dollar. Im Monat zuvor hatte bei Christie’s in New York ein weit weniger bekannter Künstler mit seinen Absinthtrinkern in einem tristen Gartenlokal einen Rekord verbuchen können: „Les buveurs d’absinthe (Les Déclassés)“, 1881 gemalt von Jean-François Raffaëlli, erwarb damals das San Francisco Museum of Art für knapp 3 Millionen Dollar. Da war der Erlös für Albert Ankers „Absinthtrinker“ bescheidener. 130.000 Franken brachte das Aquarell des Mannes mit Wanderstock und Bündel 2008 bei Koller in Zürich, der genauso hoffnungslos in die Welt schaut wie der „Absinthtrinker“ von Viktor Oliva, der seit 1901 im Prager Café Slavia hängt. Während der Kellner im Hintergrund wartet, dass sein allerletzter Gast geht, sieht der als Vision die „Grüne Fee“ als geisterhaft Nackte auf seinem Tisch. Inzwischen hat sie jedoch ihre Macht verloren: weil staatliche Reglementierungen ihren gefährlich hohen Alkoholgehalt verbotsgesenkt haben, und weil sie in einer Kunstwelt, die nichts von moralischen Erzählungen hält, nur noch eine Reminiszenz ist