Kunstmarkt für Zeichnungen

Von eigener Hand

Der Markt für Zeichnungen ist im Aufwind und reicht von Werken Leonardo da Vincis bis zur Gegenwartskunst. Das Gros des Angebots liegt im drei- und vierstelligen Preisbereich – doch einzelne Blätter gehen in die Millionen

Von Stefan Weixler
15.08.2022
/ Erschienen in Kunst und Auktionen 12/22

„Es gibt nichts Neues unter der Sonne“, heißt es im Buch Kohelet des Alten Testaments. Die Geschichte der Kunst bestätigt dies immer wieder. Sie hat über die Jahrhunderte hinweg ein innovationsreiches Bilduniversum entstehen lassen, in dem Zeit und Raum vielfach zu verschwimmen scheinen – insbesondere im Bereich der Handzeichnungen, der zahlreiche Künstlerinnen und Künstler im geschützten Rahmen der eigenen vier Werkstattwände zum freien Spiel mit Möglichkeiten inspirierte.

Leonardo da Vinci Zeichnung „Codex Atlanticus“
Der Künstlerforscher Leonardo da Vinci verarbeitete in seinen faszinierenden Wort-Bild-Codices nach Art eines analogen Hypertexts vielfältige externe und interne Informationen – wie hier auf einem Blatt aus dem „Codex Atlanticus“. © Wikimedia Commons

Da gibt es unter anderem die faszinierenden Wort-Bild-Codices Leonardo da Vincis, in denen der Künstlerforscher mit dem Stift nach Art eines analogen Hypertexts vielfältige externe und interne Informationen verarbeitete. Nicht von ungefähr kaperte der „Schamane“ Joseph Beuys Mitte des 20. Jahrhunderts die zukunftsweisende Ästhetik dieses grafischen Denkansatzes, um seinen „Erweiterten Kunstbegriff“ zu inszenieren. Vergleicht man beispielsweise ein Blatt aus dem „Codex Atlanticus“ Leonardos mit einer titellosen Beuys-Zeichnung aus dem Jahr 1978, die Anfang April bei Sotheby’s Deutschland von 6000 auf 12.000 Euro kletterte, wird dieser Brückenschlag unmittelbar ersichtlich. Und auch die Kunst des 21. Jahrhunderts, die sich ohnehin bevorzugt als „lab for the exploration of existence“ definiert, profitiert noch von Leonardos Notizenwerk – Jorinde Voigt etwa, die anhand von Algorithmen abstrakte Phänomene zu Papier bringt: „2 Horizonte“, eine Arbeit von 2011 mit Tinte, Ölkreide und Bleistift, erzielte am 3. Dezember 2021 bei Grisebach in Berlin taxgerechte 7000 Euro. Und auch Nanne Meyer, deren Blatt „Aus der Rückgradforschung [sic]“ von 1991 am 19. November 2021 bei Kaupp in Sulzburg für 220 Euro (Taxe 150 Euro) zu haben war, oder Malte Spohr, dessen „SW III, 2014“ aus seiner Serie fotobasierter (Auf-)Zeichnungen flüchtiger Naturphänomene am 30. April bei Irene Lehr in Berlin 2000 Euro (Taxe 1000 Euro) brachte, stehen noch in Leonardos Traditionslinie.

Joseph Beuys Zeichnung Sotheby’s
Joseph Beuys kaperte Mitte des 20. Jahrhunderts Leonardo da Vincis zukunftsweisende Ästhetik eines grafischen Denkansatzes. Unmittelbar ersichtlich wird dies beispielsweise an einer Beuys-Zeichnung aus dem Jahr 1978, die Anfang April bei Sotheby’s 12.000 Euro brachte. © Sotheby’s Deutschland

Eine halbe Ewigkeit trennt auch Luca Cambiasos Arbeiten in „Maniera cubica“ von formal vergleichbaren Werken, die Anfang des 20. Jahrhunderts unter dem Stichwort „Kubismus“ Furore machten. Bei Christie’s New York kam Mitte Oktober 2021 eines dieser prophetischen Cambiaso-Blätter zum Aufruf, das 10.000 Dollar (Taxe 20.000 Dollar) erzielte. Zwar ging es dem Alten Meister „nur“ darum, mithilfe von Kubenfiguren komplexe Bewegungsabläufe wirkmächtig zu visualisieren – wohingegen Picasso & Co. polyvalente Perspektiven auf Gegenstände eröffneten und damit eine Zeitachse im Bild implementierten. Und doch sind beispielsweise Fernand Légers „Personen im Treppenhaus“ von 1914, die am 17. September 2021 bei Kornfeld in Bern 750.000 Franken (Taxe 800.000 Franken) realisierten, späte Wiedergänger von Cambiasos Maschinenmenschen. Geometrische Gestaltungskonzepte in der Kunst sind also nicht erst im 20. Jahrhundert vom Himmel gefallen – sie hatten durchaus ein historisches Fundament.

Luca Cambiaso zeichnung alter Meister
Bei Christie’s kam Mitte Oktober 2021 eines der prophetischen Blätter des Alten Meisters Luca Cambiaso zum Aufruf, das formal auf kubistische Arbeiten des beginnenden 20. Jahrhundert vorausweist. Das Werk erzielte 10.000 Dollar. © Christie’s, New York

Francisco de Goyas aus dem Leben gegriffene Pinselzeichnungen, die das Medium als politische Waffe verstehen und kraft ihrer narrativen Qualitäten Storyboards zu sozialkritischen Filmen entsprungen sein könnten, beeinflussten die Arbeiten des multimedialen Linienmeisters William Kentridge. Ein Altmeisterrekurs, auf den Kentridge selbst immer wieder verwiesen hat, der sich aufgrund von Goyas progressiver Bildsprache aber nicht sogleich zu erkennen gibt. Kentridges Tuschezeichnung „Breathe“ – Vorlage für das gleichnamige Künstlerbuch, in dem sich eine Tänzerin nach Art eines gefledderten Daumenkinos sukzessive durch die Seiten dreht – kletterte am 9. Dezember 2021 bei Karl & Faber in München von 55.000 auf 85.000 Euro.

Dass solche Wurmlöcher durch die Jahrhunderte überproportional häufig im Sektor der Handzeichnungen festzumachen sind, ist der primordialen Aufgabe geschuldet, vor die sich jeder Zeichnende – ob groß oder klein, ob Profi oder Laie – gestellt sieht. Und zwar: die Welt zu umreißen, um sie zu begreifen – immer und immer wieder, nach dem Trial-and-Error-Prinzip. Und weil dabei stilistische, kompositorische und technische Fragen nachrangig sind, auch die Außenwirkung wenig Rolle spielt, schlägt sich wie von selbst das individuelle Temperament des Künstlers auf dem Papier nieder – und das ist völlig alterslos, kann immer wieder inspirieren.

Fernand Léger Zeichnung „Personen im Treppenhaus“
Fernand Légers „Personen im Treppenhaus“ von 1914, die am 17. September 2021 bei Kornfeld 750.000 Franken realisierten, sind späte Wiedergänger von Cambiasos Maschinenmenschen. © Galerie Kornfeld, Bern

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