Der Markt für Zeichnungen ist im Aufwind und reicht von Werken Leonardo da Vincis bis zur Gegenwartskunst. Das Gros des Angebots liegt im drei- und vierstelligen Preisbereich – doch einzelne Blätter gehen in die Millionen
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15.08.2022
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Erschienen in
Kunst und Auktionen 12/22
Vielleicht besteht ja ein Zusammenhang zwischen dem zunehmenden Interesse, das der Sektor seit einigen Jahren auf sich zieht, und der spürbaren Durchlässigkeit dieser im besten Sinne identitätsgetriebenen Disziplin, die als humane Uraktivität von maximaler Barrierefreiheit jedem Kleinkind Punkt-Punkt-Komma-Strich-Erfahrungen gestattet, Ethnien, Gesellschaften und Generationen verbindet – bis zurück ins Jungpaläolithikum. Aber wie dem auch sei: Handzeichnungen sind jedenfalls stark im Aufwind. Eine stetig wachsende Zahl spezialisierter Messen wie „Master Drawings“, „Salon du Dessin“ oder „Paper Positions“ und ein Auktionsumsatz von 2,8 Milliarden Dollar 2021 (Artprice) sprechen für sich.
Das solide Fundament des Markts bildet seit jeher das Gros der Offerte im drei- und unteren vierstelligen Bereich – angefangen bei den vorwiegend anonymen, teils unter „Schule“, „Umkreis“ oder „Nachfolge“ von XY einsortierten Altmeisterblättern bis hin zu jüngeren und jüngsten Positionen aus der vielseitigen internationalen Spezialistenszene. Bei Bassenge in Berlin beispielsweise war am 3. Dezember 2021 Donato Cretis Studie einer sitzenden Sibylle bereits für 700 Euro (Taxe 500 Euro) zu haben. Winterberg gab am 7. Mai in Heidelberg eine charmante, Paolo Veronese zugeschriebene Federzeichnung von „Amor“ bei 1600 Euro (Taxe 750 Euro) ab. Und Thomas Müllers 2009 mit Kugelschreiber entstandene Arbeit „Ohne Titel“, eine seiner typischen minimalistischen Formexperimente, kletterte am 23. Februar bei Nagel in Stuttgart von 300 auf 2000 Euro. In diesem Sektor kann man risikolos nach Qualitäten fahnden – eine Spielwiese für Einsteiger, Connaisseurs und Spekulanten.
Der Mittelmarkt erfordert für charakteristische Arbeiten klangvoller Namen oft auch nur finanziellen Spielraum für eine Investition im niedrigen fünfstelligen Bereich. Bei Artcurial in Paris beispielsweise kletterte am 23. März eine Kreidestudie des Madame-de-Pompadour-Lieblings François Boucher von 8000 auf 19.000 Euro: zu sehen Hände und Füße, die im Zusammenhang mit dem Gemälde „La Lumière du monde“ entstanden. Die gleiche Summe reichte am 3. Dezember 2021 bei Bassenge in Berlin für ein auf 15.000 Euro geschätztes Kohle-und-Kreide-Bildnis eines jungen Mannes von Giovanni Battista Piazzetta – eine seiner schon zu Lebzeiten des Künstlers begehrten „Teste di Carattere“. Am 29. Juni wurde eine lavierte Federzeichnung von Giovanni Domenico Tiepolo mit „Nessos und Deianeira“ bei Neumeister in München von 10.000 auf 24.000 Euro gesteigert. Und bei Van Ham vervierfachte am 18. November 2021 ein junger Mann auf einem Felsen, den Marcantonio Raimondi möglicherweise auf Basis einer antiken Skulptur gezeichnet hat, mit einem Zuschlag bei 35.000 Euro die Taxe.
Nur wenn besondere Darlings und / oder extreme Raritäten aufgerufen werden, geht es in höhere Preisbereiche. So der Fall bei zwei Bleistiftzeichnungen von Egon Schiele, die Ketterer am 10. Juni in München zur Auktion brachte: „Sitzendes Mädchen“ kletterte von 60.000 auf 105.000 Euro, ein „Selbstporträt“ von 80.000 auf 200.000. In Wien brachte am 16. Dezember 2021 Gustav Klimts „Schwebender Akt“ im Kinsky 90.000 Euro (Taxe 60.000 Euro), das Dorotheum hob am 31. Mai dessen Porträtzeichnung zum Gemälde „Ria Munk III“ auf 210.000 Euro (Taxe 50.000 Euro). Und für George Grosz’ „Ganoven an der Theke“ von 1922 gelang Lempertz am 1. Juni in Köln ein Zuschlag bei 300.000 Euro (Taxe 250.000 Euro).
Einzelne sensationelle Arbeiten sprengen das gewohnte Gefüge. Ende 2021 wurde beispielsweise publik, dass die Federzeichnung einer „Jungfrau mit Kind“, die sich in einer US-amerikanischen Privatsammlung versteckt hatte, von Albrecht Dürer stammen muss. Die mittlerweile dem Werkverzeichnis zugeschlagene Arbeit steht bei Agnews in London zum Verkauf. Zu einem Preis, der laut Gallery Director Anthony Crichton-Stuart deutlich über den 11,5 Millionen Pfund brutto liegt, die 2018 Lucas van Leydens Kreidestudie eines jungen Mannes bei Christie’s London erzielte – die momentane Benchmark für ein Blue-Chip-Blatt aus der nordeuropäischen Renaissance.
Im Frühjahr ließ dann auch noch eine Michelangelo-Zeichnung den Blätterwald rauschen, die ein Gutachten des Spezialisten Paul Joannides der „Schule“ des Künstlers entrissen und in den Olymp befördert hatte. Die Studie eines Täuflings aus Masaccios Neophyten-Fresko in der Florentiner Brancacci-Kapelle erzielte am 18. Mai bei Christie’s Paris 20 Millionen Euro – einen Rekord, der aber leider nach Enttäuschung schmeckte. Denn das Haus hatte dem Frühwerk bis zu 30 Millionen zugetraut.
Noch immer nicht verkauft ist Leonardos Federzeichnung des „Heiligen Sebastian“, die das Pariser Auktionshaus Tajan 2016 in einem Bündel eingelieferter Zeichnungen entdeckt hatte. Frankreich hatte das Blatt umgehend als „Trésor national“ klassifiziert – und dadurch 30 Monate Zeit gewonnen, um es für den Pariser Louvre zu erwerben. Medienberichten zufolge war die Offerte des Landes von 10 Millionen Euro dem Eigentümer Jean B. am Ende aber nicht genug, da Tajan bis zu 15 Millionen in den Raum gestellt hatte. Jean B. will nun eine Ausfuhrgenehmigung erhalten, die das Kultusministerium bislang aber wegen eines Raubverdachts nicht erteilt. Und weil der 86-Jährige dem Auktionshaus mittlerweile das Vermarktungsrecht entzogen hat, spricht Tajan von Vertragsbruch. Aktuell streiten sich alle drei Parteien vor Gericht – auch nichts Neues unter der Sonne …