Ihre spektakulären Performances vereinen die radikale Körperlichkeit des Wiener Aktionismus mit zeitgenössischem Feminismus: Mit der Choreografin Florentina Holzinger feiert die Avantgarde ein blutig-tosendes Comeback
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21.09.2022
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Erschienen in
WELTKUNST Nr. 203
Aus dem Bühnenhimmel hängende Motorräder werden nun bestiegen, Sylphiden als motorisierte Luftgeister, die immer noch daran erinnern, dass Tanz im Grunde ein Spiel mit der Schwerkraft ist. Auch wenn die Stahlseile sichtbar sind, es ist ein betörendes Bild mit röhrenden Motoren. Andere Sylphiden werden am Rücken von Haken durchbohrt in die Höhe gezogen – einer der Stunts, der als willentliche, wenngleich kontrollierte Verletzung des Künstlerinnenkörpers an die Selbstmalträtierungen des Wiener Aktionismus erinnert. Die Szene ist jüngst auch in die Literatur eingegangen, in Helene Hegemanns neuem Geschichtenband „Schlachtensee“ erzählt eine der Protagonistinnen ihrer Partnerin während eines Lustkampfspiels davon.
Holzingers Erwiderungen zu Fragen nach den Wiener Körperlichkeitsavantgardisten verweigern ein klares Bekenntnis. Sie freut sich, dass über diese Brücke ein älteres Publikum Zugang zu ihren Performances findet, andererseits lehnt sie die Zuschreibung einer direkten Bezugnahme ab. Man kann es auch so sagen: Als künstlerischer Mehrwert ist es eine Sache der Betrachter. Zumal ja ins Auge springt, dass die damals beinahe ausschließlich männlich dominierte Aktionismus-Truppe (Valie Export erhielt erst später ihren eigenen Rang) nicht unbedingt die Bürgschaft für Holzingers Visionen 50 Jahre danach bedeuten kann.
Die Motorräder tauchten in ihrer nächsten größeren Arbeit wieder auf. In „A Divine Comedy“, lose angelehnt an Dantes Höllenfahrt (Ruhrtriennale und Volksbühne 2021), durchpflügten diesmal auf dem Boden fahrende Bikerinnen die Bühne, während Holzingers Tänzerinnen von meterhohen Treppen halsbrecherische Absturzchoreografien vollführten. Über dem Stunt-Ballett hingen im Bühnenbild von Nikola Knežević zwei Autos wie schöne Ungetüme. Und hier ist gewiss der aktuelle Anschluss möglich, der vom Wiener Kontextmythos wegführt.
Denn in Julia Ducournaus in Cannes ausgezeichnetem Film „Titane“ finden sich mit der Verbindung von Autofetisch und dafür empfangsbereiter Weiblichkeit Bilder der Hybridisierung von bislang männlich konnotierter Bewegungsmaschine und weiblichem Begehren. Im Film zeugt die durch einen Autounfall beschädigte Heldin mit einem wippenden Cadillac ein Kind, das nach einer Achterbahnfahrt der sozialen Maskeraden zur Welt kommt. „Titane“ weist einige Parallelen zu Florentina Holzingers noch gar nicht ganz zu erfassenden rasenden Bühnenkörpern auf, diesen weiblichen Kentauren mit schönen Maschinenleibern und Tanzgeschichtswissen.
Dass die Holzinger-Tänzerinnen (darunter sie selbst) in „A Divine Comedy“ auch das kollektiv gefeierte Bodypainting als fluide Orgie um Beatrice Corduas Passion von Nacktheit, Alterssex und Tod einkreisen, zeigt nur, wie mehrdimensional ihr Umgang mit der Kunstgeschichte auf der Bühne ist. Und wohl auch in allen Diskussionen bleiben wird, denn eigentlich geht es bei ihr ja gerade erst richtig los.
Im Bauhaus entstand beim Tanz mit Oskar Schlemmers „Triadischen Ballett“ eine völlig neue Konzeption von Kunst und Mensch, nach einem Entwurf, der eben auch den Tanz revolutionieren sollte. Obwohl Schlemmer heute zum Kanon der Moderne gehört, hat er nicht allzu viel Wirkmacht auf nachfolgende Generationen ausgeübt. Florentina Holzingers Ansatz, der sich aus früheren Avantgarden speist und diese mit neuen Themen verbindet, könnte da viel fruchtbarer sein. Und zu ganz anderen Betrachtungen führen, die gerade erst am Anfang stehen und immer mehr zu fließen beginnen. Auch für ihre nächste große Arbeit an der Berliner Volksbühne führt die Choreografin einen Heroen ihrer radikalen Vorgängergenerationen an, den amerikanischen Undergroundfilm-Pionier Kenneth Anger. „Übergieße dich mit Wasser: so sollst du dem Universum ein Brunnen sein“, schrieb er einmal. Ein Zitat, das gleichermaßen gut auf Holzingers Inszenierungen und unsere Gegenwart passt: Das Fluide ist das Bleibende.