Mit Logos und Piktogrammen prägte Otl Aicher das visuelle Bild der BRD, sein heiteres Design für die Olympischen Spiele in München ist ein moderner Klassiker. Vor 100 Jahren wurde er geboren
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21.10.2022
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Erschienen in
WELTKUNST Nr. 205
Gewiss, man kultivierte die Askese, jedoch nicht als Selbstzweck. Das Modell der HfG diente dazu, das Chaos des Lebens durch intelligentes Design zu beherrschen. Charles und Ray Eames, die Aicher wegen ihres ingenieurhaften Herangehens an die Möbelgestaltung bewunderte, kamen zu einem Intermezzo als Gastdozenten nach Ulm. An den Kursen des ehemaligen Bauhauslehrers Josef Albers über den Wert der Farbe mischte sich der Autodidakt Aicher als Zuhörer sogar selbst unter die Studenten. Andererseits war er international ein gefragter Dozent, unterrichtete zeitweise an der Yale University und auch in Rio de Janeiro. Eine konfliktfreie Zone war die Designschule auf dem Kuhberg dennoch nicht. Max Bill, die andere Gründerpersönlichkeit, forderte Autorität und sah die HfG in der Tradition des Bauhauses. Aicher wollte dagegen demokratische Strukturen und verfocht ein Bild von Designern, die ihre Entwurfskriterien „einzig aus der Aufgabenstellung, aus dem Gebrauch und aus der Technologie bezieht“. Im Jahr 1956 kam es zum Bruch mit Max Bill, 1968 schloss die HfG wegen mangelnder Finanzierung ihre Pforten. Ein Jahr später kaufte Aicher die Rotismühle bei Leutkirch im Allgäu, seinen künftigen Lebens- und Arbeitsmittelpunkt.
Nach dem Olympia-Projekt avancierte Aicher endgültig zu einem der gefragtesten Grafikdesigner. Mit Aufträgen des Leuchtenhersteller Erco, der Münchener Rück oder der WestLB war er meist jahrelang beschäftigt. Corporate Identity als Ausdruck des eigenen Selbstverständnisses und unverwechselbare Identifikationsfläche für die Kunden gewann an Bedeutung. Eingespielte Schriftmarken und Logos wurden als Platzhalter der Wiedererkennung wichtig, und Aicher hat an vielen Stellen das visuelle Bild der Bundesrepublik geprägt, ohne dass sein gestalterisches Agieren je als individuell-künstlerische Attitüde auftrumpft. Das passt zu seinen Vorstellungen, dass ein Designer keine eigene Handschrift zu haben habe. „Ein Designer signiert nicht“, lautete eine seiner Maximen.
Und doch sprechen wir heute vom Aicher-Stil. Denn er verstand es, Firmen eine Corporate Identity nicht wie einen auffälligen Mantel überzustülpen. Für ihn war es „die Kleiderordnung eines Unternehmens“, die in der Chefetage genauso befolgt wird wie in der Pförtnerloge. Um dieses Regelwerk aus Prinzipien, Eigenperspektive und visuellen Zeichen aufstellen zu können, kam Aicher das Talent zugute, die Eigenschaften seiner Kunden zu sezieren, zu beschreiben und zu gestalten. „Großartig, wie er Ordnung schaffte für Gedanken und Design“, schreibt der einst von der HfG zurückgewiesene Grafiker Thomas Rempen auf der empfehlenswerten Website otlaicher.de, die das Internationale Designzentrum Berlin zum 100. Geburtstag zusammen mit Aichers Sohn Florian auf den Weg gebracht hat.
Eines der aufstrebenden Unternehmen, die Aicher von seinem Look aus der Vorkriegszeit befreite, war die Lufthansa. Eigentlich wollte er aus dem Kranich einen aufstrebenden Pfeil machen als Symbol für Schnelligkeit und Zielgerichtetheit, doch das war dem Unternehmen dann doch zu futuristisch. Aicher setzte 1962 den Kranich auf gelben Grund, begrenzt von einem blauen Kreis. Blau und Gelb wurden die Hauptfarben des Unternehmens. Der Dekor wurde zur Marke. Der Schriftzug sah nicht mehr aus wie eine schnittige Zigarettenmarke, sondern verströmte in serifenlosen, voluminösen Lettern beruhigende Kraft. Aicher prägte das Erscheinungsbild bis hin zur Lackierung der Flugzeuge. In Werbebroschüren sollten die Menschen die beglückende Vogelperspektive beim Blick aus dem Flugzeug erfahren: Luftaufnahmen trugen sie imaginär durch die Welt.
Um selbst einen Teil der Luftbilder zu schießen, überquerte Aicher in einer kleinen Maschine Europa. Zwei Leidenschaften verknüpfte er bei dieser Aktion. Er hegte eine Faszination für die „Offenbarung des Technischen“, selbst für Gerätschaften der Wehrmacht, wie er in seinen Essayband „Innenseiten des Kriegs“ formulierte: „Es war die Ästhetik des Teufels, aber es war eine Genugtuung, einmal eine Ästhetik zu erleben, die keine Ästhetik sein wollte und weder nach Dekor und Stil fragte.“ Die Cessna mit ihren Propellern und ihren Rädern im Traktorformat, aber auch seine Begeisterung für Motorräder passten in das Schema. Die zweite Leidenschaft betraf die Fotografie. Auf seinen Reisen hielt er Menschen, Landschaften und Architektur mit der Kamera fest. Sein Fotobuch „Gehen in der Wüste“ von 1982, das begleitet ist von einem zivilisationskritischen Text, offenbart seine spezifische Sichtweise als Fotograf. In den Luftaufnahmen wie in den Wüstenbildern spiegelt sich der Blick des Grafikers, der nach Strukturen und Linien, aber vor allem nach einer Ordnung in der Natur sucht.
Aicher war kein Gestalter, der permanent vor einem leeren Blatt Papier saß. Er erforschte seine Umwelt und reflektierte. Im Prestel Verlag erschien zum Jubiläum „Otl Aicher: Designer, Typograf, Denker“. Der weit ausgreifende Band macht einmal mehr deutlich, wie einflussreich er war und wie aktuell sein Werk in einer Zeit der star ken Emotionalisierung von Design und nach einer Periode der Design-Gurus ist. Wilhelm Vossenkuhl beschreibt ihn als gestaltenden Philosophen, für den Denken und Machen eine unzertrennliche Einheit waren. Aicher selbst meinte gar, dass Gestalten ein Akt der Welterschaffung sei. Wer sich das zutraut, braucht analytischen Verstand. Aicher besaß ihn, wie auch seine zahlreichen Essays demonstrieren. Wenn ihn ein Thema interessierte, ging er ihm auf den Grund, etwa in dem 1982 erschienenen Buch „Die Küche zum Kochen. Das Ende einer Architekturdoktrin“. Der Anlass: Seit 1980 arbeitete er am Corporate Design für den Küchenhersteller Bulthaup. Der leidenschaftliche Koch Aicher rief in dem Essay das Ende der Landhausküchen, der kommunikationsfeindlichen Arbeitszeile und des dekorierten Regalfanatismus aus. Küchen sollten für ihn wie eine Werkstatt funktionieren: auf der einen Seite die Aufbewahrung von Lebensmitteln hinter geschlossenen Türen, auf der anderen die Reinigung und Verwahrung von Geschirr. Und mittendrin ein Arbeitsblock, das Werkzeug griffbereit und in Reichweite platziert. Über der Arbeitsplatte schwebt ein Gitter zur Aufhängung der Utensilien, eine magnetische Schiene fixiert ein ganzes Messerset. Was Aicher hier als magere Strichzeichnung darstellte, war in Rotis schon Realität geworden. Der von Aicher fürs eigene Zuhause konzipierte zentrale Küchenblock wurde zum Prototyp für die erfolgreichen Arbeitsinseln von Bulthaup. Es war der Anfang einer neuen Küchenphilosophie.
Kritik an der Gesellschaft war Kritik am Design. Wie 1984, als Aicher für die Münchener Rück die Ausstellung und den Begleitband „Kritik am Auto“ realisierte. Aicher war kein fanatischer Autogegner, er sah es als unverzichtbaren Teil des Systems heutiger Mobilität. Aber er benennt schon damals die Fehlentwicklungen in der 100- jährigen Autogeschichte: Fünfzig Prozent gingen auf das Konto des Irrglaubens, dass das Auto ein Produkt für Reiche sei. Die andere Hälfte des Dilemmas bestehe in der Fixierung der Autobauer auf grenzenlose Höchstgeschwindigkeit. Aicher hatte zweifellos die gerade entwickelten VW Golf und den Fiat Fiesta im Auge, als er für die Zukunft des Autos forderte: „Die Designer sind gefragt, nicht die Stylisten, die sich nur mit formalen Problemen des Zeitgeistes beschäftigen, sondern die Architekten des Autos, die Entwerfer, die das Auto als Humangegenstand verstehen.“ Als Aicher das schrieb, erntete er gerade bei BMW für die Gestaltung des Geschäftsberichts Lob von allen Seiten. Eva Moser vermutet in ihrer 2012 erschienen Aicher-Biografie, dass der Band indirekt auch an BMW gerichtet war. Er wäre wohl gern das geworden, was Giorgio Giugiaro für Fiat und VW war – der Designer eines erfolgreichen Kleinwagens. BMW setzte auf andere Modelle. Es ist eine traurige Pointe, dass Aicher 1991 durch einen Verkehrsunfall mit erst 69 Jahren starb.
Als Gestalter war Aicher stets der Diener für das Relevante und Nützliche. Sein persönliches Lebensideal verwirklichte er in Rotis im Allgäu, auf seinem Areal in der Nähe von Leutkirch. Seit 1972 versammelte er hier sein Grafikbüro, ein Fotostudio, eine Kantine, ein Wohnhaus und einen Veranstaltungsraum an diesem Ort, den er bald „Autonome Republik Rotis“ nannte. Denn dieser Mikrokosmos in den eigenwilligen Stelzenhäusern mit industriell anmutenden Scheddächern besaß eine eigene Wasserversorgung, produzierte eigenen Strom und sogar eigenes Gemüse. Selbst die von ihm 1988 kreierte Schrift erhielt den Namen des Ortes. Dass Aicher hier die freie Atmosphäre der Ulmer Zeit wieder aufleben lassen wollte, ist denkbar. Nach seinem Tod wurde es still in Rotis.
„Otl Aicher. Olympia 72“,
bis 30. Oktober,
Bröhan Museum, Berlin
„Otl Aicher 100 Jahre 100 Plakate“,
bis 8. Januar,
HfG-Archiv, Ulm