Guido Reni

Schockwellen

Die Kunst des Barocks ist unserer Zeit mit all den Krisen, Ängsten und überwältigenden Bilderfluten ziemlich nahe. Auch damals reagierten drastische und illusionistische Darstellungen auf eine allgemeine Unruhe. Das Städel Museum widmet dem Maler Guido Reni nun eine Ausstellung

Von Kia Vahland
29.11.2022
/ Erschienen in WELTKUNST Nr. 198

Gäbe es endlich Zeitmaschinen wie in alten Science-Fiction-Romanen, dann wäre die Renaissance bei Zeitreiseagenturen vermutlich ausgebucht – die Epoche von hoffnungsfrohen, humanistischen Malern und Bildhauern wie Leonardo, Raffael und Michelangelo, von Mäzeninnen und Herrschern wie der Markgräfin Isabella d’Este und Papst Julius II., Frauen und Männern, die um den Wert künstlerischer Freiheit wussten. Auch die Antike könnte Kunstfreundinnen und Kunstfreunde reizen: einmal durch Pompeji und Herculaneum wandeln, bevor die Lava kam. Sogar das deutsche Kaiserreich mit seinem Nebeneinander von akademischer Malerei und aufkommenden Avantgarden fände Zuspruch.

Aber der Barock? Wer reist freiwillig ins 17. Jahrhundert, tut sich die verheerenden Kriege an, die Europa fast zerrissen? Wer besorgt sich ein warmes Wams für die Kleine Eiszeit, jenen Klimasturz, der Ernten in feuchten Sommern vernichtete und Menschen in den kalten Wintern hungern ließ? Wer nimmt all die Turbulenzen auf sich, um eine effektvoll komponierte Kunst der Überwältigung zu erleben, die Religion, Politik und Ästhetik untrennbar mischte? Wer liest die unerbittlichen Kunsttraktate der katholischen Strategen, folgt den Predigten bilderskeptischer Protestanten, sucht in den Ateliers nach Spuren des Widerstands gegen so viel Ideologie? Der Barock wäre im Zeitreisebüro womöglich der Ladenhüter. Museumskustodinnen berichten, wie sehr manche Besucherinnen heute mit der Malerei des im Barock tonangebenden Flamen Peter Paul Rubens fremdeln: Die schweren Leiber mit Orangenhaut und roten Backen, diese wilde Energie und drastische Gewalt – dem mag sich nicht jeder aussetzen. Es lässt sich in diese stilprägende, affektstarke Kunst nichts hineinträumen wie noch in Sandro Botticellis ausgeruhte Göttinnen der Renaissance.

Doch kaum eine Epoche ist dem frühen 21. Jahrhundert so nah wie die Zeit vom ausgehenden 16. bis ins frühe 18. Jahrhundert. So wie heute, so konnten auch damals Zeitgenossinnen und Zeitgenossen allein aus der Vergangenheit keine tragfähigen Schlussfolgerungen für die Zukunft ziehen. Die Menschen spürten und erlebten, welche Umwälzungen im Gange waren; sie wussten aber nicht, wohin diese führten, das sorgte für Ängste. Bald zeigte sich: Die eine Glaubenswahrheit, die eine Gewissheit, das gab es nicht mehr. Katholiken und Protestanten vertrauten zwar demselben Gott, doch sie taten dies mit ganz unterschiedlichen Voraussetzungen. Es brauchte dreißig Jahre Krieg, um im Westfälischen Frieden 1648 zu der Einsicht zu kommen: Keine Seite wird die andere überzeugen, man muss sich arrangieren mit unterschiedlichen Glaubenssätzen. Und das muss kein Verlust sein, im Gegenteil. Vielfalt zu akzeptieren ist noch heute eine Errungenschaft, die immer wieder hergestellt und erneuert werden will.

Unpolitisch zu sein, das konnte sich dabei im Barock kaum ein Künstler leisten. Schon damals hing das eigene Schicksal von dem des Landes, des Kontinents, der Welt ab. Rubens war auch Diplomat der spanisch-habsburgischen Krone, er malte nicht nur immer wieder gegen Kriege an, sondern handelte auch den 1630 unterzeichneten Friedensvertrag zwischen England und Spanien mit aus. Und der Bildhauer Gian Lorenzo Bernini stellte 1651 auf die Piazza Navona in Rom den Vier-Ströme-Brunnen, der so verstanden werden musste, dass hier der gesamte Erdball dem Papsttum huldigt. Und das, nachdem dieses sich drei Jahre zuvor in den Verhandlungen zum Westfälischen Frieden gerade nicht als europäische oder gar weltweite Hegemionalmacht behaupten konnte. Selbst der Holländer Rembrandt, den im Zweifel das allzu Menschliche mehr interessierte als Machtgebaren, schuf 1642 mit der „Nachtwache“ der Amsterdamer Büchsenschützengilde das Sinnbild für die Schlagkraft bürgerschaftlicher Selbstorganisation, ein Gegenentwurf zum höfischen Lebensstil. Den Stolz reicher Städte verkörpert auch Jan Vermeers „Ansicht von Delft“, die er 1660 von seinem Haus am Stadtrand aus malte: Unter dramatischem Himmel entfaltet sich die Silhouette des wohlsituierten Ortes in allen Details. Auf der anderen Seite standen ältere katholische Vorzeigemaler wie Guido Reni, der sich rühmte, schon als 23-Jähriger, im Jahr 1598, mit päpstlichen Aufträgen bedacht worden zu sein.

Gerrit van Honthorst
Der Utrechter Gerrit van Honthorst war von Caravaggio beeinflusst und malte gern heitere Lebenslust wie 1622 die „Musiker auf dem Balkon“. © he J. Paul Getty Museum, Los Angeles, 70.PB.34

Gleichgültig aber, in wessen Diensten die Künstlerinnen und Künstler standen, sie alle bewegten sich in einer Zeit kaum zu bewältigender Widersprüche. Nicht auflösen ließen sich im 17. Jahrhundert die Spannungen zwischen dem florierenden naturwissenschaftlichen Denken und althergebrachten Überzeugungen. Nikolaus Kopernikus’ astronomisches Hauptwerk „De revolutionibus orbium coelestium“ von 1543 durfte im Herrschaftsbereich der römischen Inquisition nur in Ausgaben erscheinen, die das heliozentrische System, wonach die Erde sich um sich selbst und die Sonne bewegt, als bloßes Denkmodell und nicht als Tatsache hinstellten. Nachdem Galileo Galilei 1632 Kopernikus’ Idee untermauert hatte, wurde ihm der Prozess gemacht. Das aber hinderte Naturwissenschaftler im 17. Jahrhundert nicht, ergebnisoffen zu forschen und den Zweifel zu kultivieren. Es ist diese Haltung, den Dingen auf den Grund zu gehen und – auch eigene – Fehleinschätzungen anhand von Empirie zu korrigieren, die heute wieder auf dem Prüfstand steht. Dass die Erde nicht den Mittelpunkt des Alls bildet, ist keine bloße Meinung, sondern beweisbar, ein Stück Wirklichkeit. So wie es heute wissenschaftliche Beweise für den Klimawandel oder die Wirkung von Viren gibt.

Die Menschen im Barock erlebten dabei nicht nur, wie schnell sich Religion, Weltanschauungen und Wissenschaften wandelten, sie mussten – wie auch wir heute –mit weitreichenden politischen und ökonomischen Veränderungen zurechtkommen. Das jahrhundertealte Zusammenspiel von Landesherren und Klerus geriet ins Wanken und damit auch das Leben in regionalen Strukturen. Hegemonialmächte gewannen an Einfluss, Könige und Päpste pochten auf ihre zentralstaatliche Gewalt und setzten diese immer erfolgreicher durch. Gleichzeitig internationalisierte sich der Handel, die brutale Ausbeutung der Kolonien belebte die Wirtschaft und die Staatskassen in Teilen Europas, aber auch die Spekulation und Finanzgeschäfte aller Art.

Manche Mechanismen des späteren industriellen Kapitalismus bildeten sich bereits im 16. und 17. Jahrhundert heraus. Ökonomischer Erfolg wurde zur globalen Angelegenheit, von der auch gut vernetzte Banker und Kaufleute profitierten, nicht nur Adelige und Feudalherren. Damit änderte der Reichtum sein Image, es verblasste das mittelalterliche Ideal des (angeblich) bescheidenen Wohltäters, der sein Schaffen in den Dienst Gottes und der Kirche stellt. Man durfte, ja musste Besitz zur Schau stellen, schließlich kündete Prachtentfaltung nun von einem erfolgreichen Leben.

Das galt umso mehr für die öffentliche Repräsentation von Macht. Kirchenherren, Fürsten, Monarchen hatten auch ästhetisch etwas zu erringen und zu verteidigen: ihren Rang und ihre Deutungshoheit. Gekonnte Inszenierung war das Gebot der Stunde. Das durfte überwältigend wirken wie in den barocken Palästen und Kirchen, in die man eintrat wie in eine Parallelwelt: Der gemalte Himmel an der Decke reißt auf, Engel und Heilige fliegen einem entgegen, der Wandschmuck schwingt sich empor zu wallenden Formen, und die Märtyrer auf den Altären und Wandtafeln leiden, als würden sie in diesem Moment gefoltert.

Guido Reni
Guido Reni, „ Himmelfahrt Mariens", um 1598/99 © Städel Museum, Frankfurt am Main

Wie Malerei in einem solchen Gesamtkunstwerk die baulichen Grenzen der Architektur überwinden kann, zeigt der Künstler und Jesuitenmönch Andrea Pozzo. Ab 1685 bemalte er die Decke von Sant’Ignazio in Rom. Über einer Scheinarchitektur öffnet sich der rosarote Himmel in die Unendlichkeit, im Zentrum stehen der Ordensgründer der Jesuiten, Ignatius, und Christus, der seine Strahlen auf ihn abfeuert. Ignatius gibt das Licht an die Erdteile weiter, verkörpert von kräftigen Frauen – und die schütteln „Häresie und andere Laster“ ab, wie Pozzo es einmal ausdrückte. Eine der größten ästhetischen Innovationen der Epoche, die fulminante illusionistische Deckenmalerei, verdankt sich dem Kulturkampf gegen Abtrünnige.

Alles nur Propaganda also? Nein, denn die Barockkünstler nehmen das Publikum ernst. Sie beleidigen seinen Verstand nicht, sondern huldigen ihm. Man muss nur den einen Standpunkt in der Kirche verlassen, auf den die Perspektive ausgerichtet ist, und schon erschließt sich das Ganze als Trug. Dann erkennen die Gläubigen, dass etwa Pozzos aufgemalte Kuppel nur aus Farbe besteht. Und würdigen die List und Kunstfertigkeit des Malers umso mehr.

Nächste Seite