Die Kunst des Barocks ist unserer Zeit mit all den Krisen, Ängsten und überwältigenden Bilderfluten ziemlich nahe. Auch damals reagierten drastische und illusionistische Darstellungen auf eine allgemeine Unruhe. Das Städel Museum widmet dem Maler Guido Reni nun eine Ausstellung
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29.11.2022
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Erschienen in
WELTKUNST Nr. 198
Die Kunst des Barocks ist eine Kunst der Inszenierung, auch das verbindet sie mit dem 21. Jahrhundert. Nur dass die Gegenwart zwischen Schein und Sein nicht immer so genau unterscheiden mag. Mafiabosse wollen im Nagelstudio aussehen wie ihre Kollegen im Kino. Die Influencerin auf Instagram verkauft vermeintliche Einblicke in ihr echtes, stets gut geschminktes Leben. Und das Deepfake-Video, das Lügen über Putins Ukraine-Krieg verbreitet, will gar nicht enttarnt werden. Die Fiktion bemächtigt sich immer wieder der Realität, durchdringt und formt sie. In der illusionistischen Kunst des Barocks war die gewollte Täuschung dagegen immer nur ein zeitlich begrenztes Vergnügen. Bei allen Höhenflügen in den Kuppeln blieb der Kirchenboden hart und fest. Man fantasierte sich lieber ins Jenseits, anstatt das Diesseits allzu sehr mit Sehnsüchten aufzuladen.
Und nahm die Himmelslust einmal überhand, wurde der Prunk zu golden, der Samt zu schimmernd, die Aureole zu leuchtend, dann traten die Gegenspieler auf den Plan. In dieser so hochfahrenden Epoche wird die Kunst zugleich eben auch herb, dreckig und arm. Der Norditaliener Caravaggio brachte schon um 1600 in Rom eine neue Erdenschwere auf die Altäre, zeigte die schmutzigen Fußsohlen von Pilgern, das betrunkene Lachen eines Jugendlichen und Maria nach dem Modell einer Prostituierten. Seine hoch konzentrierte, drastische Malerei kannte die Gesetze der Physis und der Physik und auch die Regeln der Bühnenkunst. Caravaggio schien zu wissen: Die Sehnsucht nach Wahrhaftigkeit ist umso größer, je prachtvoller die Show drumherum ist. Ihm folgte der Spanier Diego Velázquez, dem es sogar am Madrider Königshof gelang, die Menschen hinter den strengen Ritualen auszumachen, ihre Verletzlichkeit und ihre Nöte zu zeigen.
Beide Maler nutzten gezielt Licht und Schatten, um die Kontraste ihrer Zeit ins Bild zu setzen. Das begeisterte die Kollegenschaft und das Publikum in halb Europa. In Nordeuropa greifen zahlreiche Maler Motive Caravaggios wie dessen Trickspieler auf, entwerfen derbe Wirtshausszenen, zeigen Gaunerinnen und Trinker. Andere wie Willem Claesz. Heda aus Haarlem verlegen sich auf Stillleben, die aussehen, als hätte jemand den Tisch noch während einer Mahlzeit verlassen: das Weinglas halb voll, ein anderes umgeworfen, die Zitrone aufgeschnitten, Nussschalen auf dem Tischtuch zerstreut. Bei manch einem der vielen Küchenstücke aus der Barockzeit faulen Obst und Blumen auch schon, oder es liegt ein Totenschädel herum. Das melancholische Bewusstsein, wie kurz und endlich das Leben ist, durchzieht diese Epoche – die ebenso die Freude kultiviert, nun erst recht zu feiern, solange es noch geht.
Man will, kann sich nichts vormachen in diesen von Krieg, Tod und Wandel geprägten Zeiten: Eskapistische Wohlfühlbilder wären einfach nicht glaubwürdig. Respekt verschafft sich, wer die Dinge beim Namen nennt; auch diese Haltung mag dem frühen 21. Jahrhundert näher sein als noch dem ausgehenden 20. Jahrhundert, das über Umweltprobleme, Menschenrechtsverletzungen und zwischenmenschliche Missstände oft einfach hinwegsah.
In Italien war es allen voran Artemisia Gentileschi, die in ihren großformatigen Gemälden bis an die Schmerzgrenze ging und darüber hinaus. Die Tochter eines arrivierten Barockmalers, Orazio, hat sich bei dessen Bekannten Caravaggio abgeschaut, wie man die Kompositionen auf das Wesentliche reduziert, damit die Motive Betrachter und Betrachterinnen in Nahsicht anspringen. Als Jugendliche war sie von einem Werkstattmitarbeiter ihres Vaters vergewaltigt worden, im darauffolgenden Gerichtsprozess wurde sie gefoltert. In ihrer Kunst mit oft biblischen Themen nahm sie immer wieder eine weibliche Perspektive ein, zeigte den Schrecken einer begafften Susanna im Bade und die kühle Überlegenheit einer Judith, die den Holofernes köpft. Gerne malte sie sich auch selbst, etwa als Allegorie der Malerei in gewagt-gedrehter Pose an der Staffelei. So fand Gentileschi völlig neue Bildlösungen und eine Affektregie, die das Spektrum des Zeigbaren erweiterte.
Natürlich setzten nicht alle Kolleginnen und Kollegen auf Schock und Provokation. Es gab auch den extrem langsam malenden Landschaftsmaler Adam Elsheimer, ansässig in Frankfurt, der so realistisch die Milchstraße malte, dass vermutet wird, er habe die modernen Fernrohre und Hohlspiegel seiner Zeit für astronomische Studien genutzt. Oder Tiermaler wie den Holländer Paulus Potter, der im Freien Rinder studierte und sie ganz individuell darstellte. Oder die Spezialistin für höchst geschmackvolle Käsestillleben, Clara Peeters aus Antwerpen. Und natürlich in Frankreich Nicolas Poussin, dessen versonnen-elegische Landschaften den Gegenpol zu Rubens’, Caravaggios und Gentileschis Wucht bilden. Die Kunst vor allem des 17. Jahrhunderts fächerte sich so breit auf, wie es die Käuferschichten taten. Auch ein Gutsbesitzer, eine Kaufmannsgattin, ein Wirt konnten sich nun kunstvolle Malerei leisten.
Das galt erst recht für das Design, für Möbel, Kunsthandwerk, für die Fayence und ab dem frühen 18. Jahrhundert auch das Porzellan. In aufwendig geschmückten Kabinettschränken aus edlen Hölzern und Elfenbein lagerten die Hausherren heimische und exotische Schaustücke: eine Wunderkammer wie an fürstlichen Höfen, nur in klein. Öfen und Kaminschirme ließ man mit Allegorien verzieren. Zwischen Kunst und Kunsthandwerk wurde kaum unterschieden, alle Lebensbereiche unterlagen schließlich der Mode. Ab dem späten 17. Jahrhundert waren asiatisch anmutende Lackmöbel beliebt, allein der Dresdner Hof beschäftigte acht Lackmeister. Wer genügend Geld hatte – auch Bürgerliche – brauchte zudem Automatenuhren, Fernrohre und anderes eigentlich wissenschaftliches Gerät, zudem natürlich Woll- und Seidentapisserien, ornamentale Wandleuchter oder bemalte Tasteninstrumente.
Ein wenig scheint es, als hätten diejenigen, die es konnten, die eigene Unsicherheit und die Unwägbarkeiten der Epoche mit Hedonismus betäubt. Das aber hatte einen Vorzug: Der blutige Ernst, der während der Religionskriege den Kontinent durchwehte, wich im frühen 18. Jahrhundert langsam, aber sicher einer verspielteren Ästhetik. Das Drama der Martertode, die Tränen Mariens, der ganze Furor der römisch-katholischen Kirche und auch die strenge visuelle Askese ihrer protestantischen Gegenspieler verloren nach und nach ihre Zugkraft. Im 18. Jahrhundert baute jeder halbmächtige Herzog oder Bischof sein kleines Versailles, wobei das Überwältigende, Heroische und Erhabene des Vorbilds verblassen musste; es gab einfach zu viele kleine Herrscher mit großem Ego. Manche, vor allem italienische Künstlerfamilien zogen von Hof zu Hof, um sie alle mit den immer gleichen Allegorien und Apotheosen zu verherrlichen.
Dabei konnte neuer Witz entstehen. So ging die Epoche wohl endgültig im Treppenhaus der Residenz von Würzburg zu Ende. Fürstbischof Karl Philipp von Greiffenclau hatte Giovanni Battista Tiepolo engagiert. Der Venezianer malte an die Decke keinen Ausblick ins Himmelreich wie einst Andrea Pozzo in Rom, sondern er hob Elefanten und Krokodile ins Bild, Sklaven und Herren, Menschen aus aller Welt, in deren Mitte nicht Christus Autorität versprüht, sondern der Sonnengott Apoll tänzelt. Manches Motiv führte der Meister gar nicht zu Ende aus, sondern erwartete, dass die Betrachtenden es vor dem inneren Auge ergänzen. Die Fantasie hatte gesiegt, und mit ihr eine Kunst, die keine eindeutigen Vorgaben macht, wie sie zu verstehen sei.
Was geblieben ist vom Barock, ist die Lust an der Inszenierung und, immer einmal wieder in den folgenden Jahrhunderten, der Kitzel der Überwältigung. Die sich nur dann genießen lässt, wenn sie nicht absolut ist, sondern man am Ende durchatmen und verstehen darf, wie einem gerade geschah. Den Barock muss man aushalten können, in all seinen Gegensätzen. Die Gegenwart auch.
Kia Vahland ist Kunsthistorikerin und Kunstkritikerin der Süddeutschen Zeitung. Ende 2021 erschien bei Suhrkamp/Insel ihr Barockbuch „Schattenkünstler. Von Caravaggio bis Velázquez“.