Was mich berührt

So kann die Welt auch aussehen

In seiner Kolumne „Was mich berührt“ stellt der Bestseller-Autor Daniel Schreiber jeden Monat Künstlerinnen und Künstler vor, die sein Leben bereichern. Folge 4: die Videokünstlerin Pipilotti Rist und das sanfte Glück

Von Daniel Schreiber
26.01.2023

Bis heute nutzt Rist immer wieder die neuesten Aufnahme-, Bildverarbeitungs- und Projektionstechnologien. In ihren Environments gelingt es ihr inzwischen, fluide Bilder räumlich so zu arrangieren, dass man förmlich darin eingebettet wird und die Entfernung zwischen den Betrachtenden und dem Bild in sich zusammenfällt. Oder sie dekonstruiert das Videobild bis in seine letzte Konsequenz. In ihrem schon erwähnten „Pixelwald“ zum Beispiel hängen dreitausend computergesteuerte Leuchtdioden, jeweils in handgemachte Harzobjekte eingebettet, an Schnüren von der Decke und wechseln in einer nicht ergründbaren, wellenartigen Logik zu einer sphärischen Klavierkomposition immer wieder ihre Farbe. Was einen sofort an Nervenzellen oder die langen Algenstränge eines tropischen Ozeans denken lässt, ist in Wahrheit ein Video, das so heruntergerechnet wurde, dass jedes seiner einzelnen Pixel jeweils einer Leuchtdiode ihre Farbe schenkt. Die Betrachtenden befinden sich buchstäblich in einem raumgewordenen Bild – einem atmosphärischen, meditativen Bild, dem man sich voller Lust und Melancholie hingibt und das imstande ist, das immerwährende Rauschen und Knirschen im eigenen Kopf zu besänftigen. Ein Bild, das man nicht wieder verlassen möchte.

Pipilotti Rist Portrait
Pionierin der Videokunst: die Schweizerin Pipilotti Rist. © Gian Marco Castleberg Photography

Viele von Rists Arbeiten haben diese Wirkung. Sie nehmen die Betrachtenden für sich ein und erlauben ihnen dabei, von allem, was sie im Alltag mit sich herumtragen, einen Schritt zurückzutreten. Vor allem ihre jüngeren Environments haben fast etwas Ozeanisches, bestehen aus technologisch hochkomplexen Zeichenlandschaften, aus fluiden Wellen, einem rauschenden Meer von Farben, Bildern, Tönen und Ideen. Mit ungeheurer Virtuosität setzt sich Rist dabei auf eine in der zeitgenössischen Kunst singuläre Weise mit Farbe auseinander: Von knallrosa Tulpenfeldern fällt man in sattgrüne Blätter und Gräser und von dort in triefend rote Erdbeeren, von einem träumerischen Unterwasserblau in eine fleischlich rosarote Zunge, die Wasser schlürft. Rists Farben können sinnlich und grell sein, prall und laut, leise und hypnotisch. Wie ihre sonderbar schönen Soundscapes können sie die Betrachtenden geradezu verschlucken, sie färben buchstäblich ihre Körper um. Rist malt mit Licht und reizt dabei das Gefahrenpotenzial von Farben aus, ihre anarchische Grenzenlosigkeit und ihre psychosoziale Kraft.

All das sorgt dafür, dass sich einige ihrer Arbeiten wie rituelle, fast schon quasireligiöse gemeinschaftliche Zusammenkünfte anfühlen – ihr Environment „Pour Your Body Out (7.364 Cubic Meters)“ (2008) im Atrium des New Yorker MoMA etwa wurde von über einer Million Menschen gesehen. Wenn man sich bei ihren Installationen unter den Betrachtenden umschaut, stellt man immer wieder fest, dass es den meisten von ihnen so geht wie einem selbst: Es stellt sich so etwas wie ein sanftes Glück ein, das sanfte Glück, am Leben und Teil dieser Menschheit zu sein und all das sehen zu können, was man gerade sieht, das sanfte Glück einer geteilten Kollektivität von Körper, Sex, Tod, Leben und Vergehen, von großem Ernst und großer Komik.

Der Kunstkritiker Peter Schjeldahl hat Pipilotti Rist einmal als „Evangelistin des Glücks“ bezeichnet und ihr einen „rigorosen, disziplinierten Hedonismus“ attestiert. Das sind brillante Beschreibungen, die aber, habe ich den Eindruck, nur eine Seite ihres Werks zu fassen bekommen. Wenn ihre Arbeiten eines gemeinsam haben, dann den Umstand, dass sie nichts weniger als eine Umprogrammierung dessen vorzunehmen versuchen, wie wir die Welt sehen. Es sagt sich immer so leicht dahin, dass Kunst unsere Wahrnehmungsweisen verändert und uns Dinge neu sehen lässt. Aber ich kenne kein anderes Œuvre, das diesen Versuch so klug, konsequent und wirkungsvoll unternimmt wie das von Rist. Letztlich zielen Rists Arbeiten nicht nur auf die Sinne und den Intellekt der Betrachtenden ab, sondern auch auf ihr Unbewusstes. Rists markanter Witz – bekanntermaßen einer der Königswege zum Unbewussten – ist selbst noch in ihren atmosphärischsten Arbeiten wiederzufinden. Ihr ganzes Werk ist von der Logik einer Traumwelt durchzogen, durch die Darstellung all jener Zwischenräume und Bewusstseinsebenen, die man im Alltag vielleicht wahrnimmt, auf die man sich aber nicht einlässt, die man wegschiebt, um zu funktionieren, um weiterzumachen.

In gewisser Hinsicht bewirken ihre Arbeiten eine einschneidende Perspektivverschiebung: Man versteht, dass man die Welt tatsächlich anders wahrnehmen kann, dass sich die Logik unserer Träume und die unserer Realität gar nicht so groß unterscheiden. Denn letztlich sind beides Konstruktionen, unsere Konstruktionen. Rists Werk lädt einen immer wieder dazu ein, das eigene Realitätsverständnis eine Zeit lang abzulegen. Leg dich auf den Boden, und nimm diese Welt aus Licht, Sound und Farbe wahr, scheinen ihre Arbeiten zu sagen, setz dich diesen Atmosphären aus. So kann die Welt auch aussehen. Und wenn du magst, kannst auch du die Welt so sehen, wenigstens eine Zeitlang.

Womit wir wieder bei der Erschöpfung wären, der privaten und der kollektiven Erschöpfung angesichts eines Alltags und einer Wirklichkeit, die uns immer wieder überfordert. Häufig wird gefragt, was Kunst politisch ausrichten, ob sie überhaupt etwas bewirken kann. In der Regel wird diese Frage verneint. Und natürlich kann Kunst keine politischen Entwicklungen beeinflussen, nichts gegen Klimawandel und Krieg unternehmen, nichts gegen die alltäglichen Verwerfungen des Spätkapitalismus und auch nichts gegen Rassismus und Misogynie. Aber in gewisser Weise eben doch. Ich glaube zumindest, dass sie es kann, dass Pipilotti Rists Kunst das kann. Dass sie unsere sich im Alarmzustand befindenden Psychen besänftigen und unser Angstgedächtnis überschreiben kann. Dass sie uns Auswege aufzeigen kann, ohne zynisch oder eskapistisch zu sein. Dass sie ein Gegengift zu jener Erschöpfung sein kann, die so viele von uns empfinden, indem sie den Blick auf all das lenkt, was wir verpassen, wenn wir mit allem so weitermachen wie bisher. Seit einiger Zeit schon kann ich mir kaum ein größeres Geschenk an uns und unsere Welt vorstellen.

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