Kunstreise

Olevano, Amore Mio!

Vor zwei Jahrhunderten verdrehte ein Dorf in den Sabiner Bergen bei Rom den deutschen Romantikern den Kopf. Wer sich heute auf die Suche begibt, entdeckt die Spuren der einstigen Künstlerkolonie und viele berühmte Blicke

Von Simon Elson
13.01.2023
/ Erschienen in WELTKUNST Nr. 208

Wahrscheinlich ist der Maler Ludwig Richter unter Abermillionen deutscher Italienbegeisterter der glücklichste. Er hat die Reiseliteratur seit Goethes Raunen von blühenden Zitronen im Ohr, ein Raunen, das um 1820 bei Gebildeten zum Volkslied geworden ist. Zudem wirken Gemälde und Grafiken mit italienischen Motiven als frischer Anreiz in seinem Gedächtnis. Und dann geht Richter 1823 von Dresden aus endlich selbst nach Italien. Vor lauter Glück bekommt der Nordmensch bei der Anfahrt in der Kutsche auf Rom „den Kopf nicht mehr in den Wagen“. Das liebliche Land, das er bislang nur erahnt und geträumt hat, wird endlich „zur lebensvollsten Gegenwart, zur schönsten Wirklichkeit“. Mit wehenden Haaren, jubelnd, fährt er nach Italien – wobei er einen Großteil des Weges zu Fuß zurücklegt.

Nie wieder wird jemand so begeistert sein wie Richter. Er befindet sich in der perfekten Balance zwischen Überlieferung und eigener Erfahrung. Sein künstlerisches Selbstverständnis möchte er am liebsten italienisch formulieren, auf den Renaissancekünstler Correggio verweisend: „Anch’io sono pittore“ – auch ich bin Maler! Zu dem Dorf Olevano, damals ein Tagesmarsch und heute eine gute Autostunde in östlicher Richtung von Rom entfernt, auf dem Monte Celeste in den Sabiner Bergen, schreibt er: „Durch Feigen-, Wein- und Ölpflanzungen stiegen wir nach Olevano hinauf, dessen Felspyramide, oben mit der Ruine einer Burg gekrönt, vor uns auftauchte.“

Auch heute noch kann man auf diese Ruine steigen, deren angenagter Turm in den hellen Himmel ragt. Wie damals hat man von hier aus einen atemraubenden Blick auf die Landschaft Latiums – nicht nur Friedrich Nerly widmete diesem Setting kurz nach Richters Aufenthalt eine Ölskizze, hundertfach wurde es in jenen Jahrzehnten gemalt und gezeichnet.

Dass Olevano vor etwa 200 Jahren zur Pilgerstätte deutscher Italiensehnsucht und gleichzeitig zum Labor der neuartigen, direkt in der Natur entstandenen Ölstudie wurde, hat unter der Obhut von Julia Draganović und Julia Trolp von der Deutschen Akademie Rom Villa Massimo sowie Tanja Michalsky und Golo Maurer von der Bibliotheca Hertziana jüngst eine Ausstellung und eine kleine Tagung in Rom nochmals erforscht. Diese deutschen Institutionen, die Villa Massimo sogar als direkt staatlich angebundene, sind dafür wie geschaffen, haben sie sich doch auch aus der deutschen Italienlust entwickelt. Federführend bei dem sommerlichen Unterfangen ist Maurer zusammen mit Florian Illies gewesen: „Olevano Romano – Vermessung eines Mythos“ heißt ihr Projekt.

Wilhelm Wach Candida Mampieri
Sanft wie eine Madonna Raffaels erscheint die Olevaneserin Candida Mampieri in dem ca. 1817–1819 geschaffenen Gemälde des deutschen Romantikers Wilhelm Wach. © Fotostudio Bartsch Karen Bartsch, Berlin/Döpfner Collection

Selbst diese Italienkenner – Illies ist spätestens seit seiner Zeit beim Auktionshaus Villa Grisebach von Olevano besessen, und Maurer hat unter anderem 2021 das Erfolgsbuch „Heimreisen“ über die deutsche Italiensehnsucht geschrieben – können den Mythos nicht genau bestimmen. Nur seine Grundform ist messerscharf erkennbar: Es ist die Liebe der deutschen Dichter und Maler zu Italien. Sie entbrannte um 1800 und ist seitdem in jede popkulturelle Pore vorgedrungen. Am Ende sucht der Deutsche dort im Süden wohl Schönheit und Genuss, denn ganz gleich, wie anmutig und gemäldekonform den deutschen Malern die Landschaft damals auch erschien: Vor allem waren es das malereifreundliche Licht, das warme Klima, die günstigen Lebenshaltungskosten, der Wein und die exotischen sozialen Bedingungen, die anzogen und dort hielten. Dabei spielte dann auch der Künstlerkolonie-Effekt eine Rolle, denn die Maler, obwohl in der Fremde, hatten durch die Landsleute eine Infrastruktur, die ihnen das Leben und Arbeiten erleichterte.

Kann man dieses Schönheitsgefühl heute noch erleben, wo jeder Deutsche vor den eigenen Landsleuten im Ausland am liebsten davonläuft? Kann man in der Landschaft, durchzogen von industrieller Nahrungsgewinnung, von Straßen und großen Städten, noch romantischen Gehalt wahrnehmen? Kann man aus den Kunstwerken von damals, auf viele Sammlungen deutscher Museen verteilt, weiterhin Naturwissen oder Sehnsuchtsgefühle gewinnen? Wie nah muss man dem Leben kommen in Post-Corona-Zeiten? Reicht es nicht womöglich, im Internet Olevano-typischen Cesanese-Wein für die auf dem heimischen Balkon verzehrte Pasta zu bestellen?

Nein, lautet die klare Antwort auf die letzte Frage. Gerade die Isolation während der Coronapandemie hat der Welt gezeigt, wie wichtig der Kontakt zu Räumen, Orten, Landschaften und Körpern ist. Hier erst entzünden sich wahre Emotionen, werden echte Mythen gebildet. Also beginnt der touristische Selbstversuch zum Italiengefühl zwar im Digitalen, aber nur mit dem Buchen eines Romflugs – ganz genau, Rom gammelt immer noch stolz vor sich hin, wie es im Roman „Töchter“ (2018) der Villa-Massimo-Stipendiatin und Bestsellerautorin Lucy Fricke heißt. Man liebt und hasst Rom gleichermaßen, sucht und flieht es – das ging den Künstlern vor 200 Jahren ähnlich. Und wie auch für sie sollte der Weg raus aus der Stadt zum mythischen Olevano kein allzu direkter sein, darf im Zickzack verlaufen, damit man viel entdeckt.

In Tivoli muss unbedingt die Villa d’Este mit ihrem opulent brunnenreichen und angenehm schattigen Park besucht werden, wo schon der berühmte Carl Blechen malte und später der Däne Janus la Cour die schönsten Gemälde komponierte, die sich heute unter anderem in Kopenhagener Museen befinden. Hinter Monitola dann, an der Strada Provinziale 33 a, sieht man Reste des alten Aquädukts Anio Novus mitten in der Landschaft, die größte und wichtigste Wasserleitung des antiken Rom, fertiggestellt gut 50 Jahre nach Christus. Dann ein Abstecher Richtung Süden in die Albaner Berge, zum Albaner See, zur päpstlichen Sommerresidenz Castel Gandolfo und zu römischem Badevergnügen – der See hat ein vornehmes Freibad, von Rom Termini mit der Bahn in eineinhalb Stunden direkt erreichbar. Nur wenige Kilometer entfernt können besinnlichere Gemüter zu Fuß den kleinen Nemisee umrunden, wie der Lago Albano auch ein alter Vulkankrater, auf dem gigantische Prunkschiffe des römischen Kaisers Caligula lagen, die dann sanken und erst in der Renaissance wiederentdeckt wurden. Heute kann man unten am See im Museo delle Navi Romane kleinere Modelle der Schiffe anschauen.

Palazzo Chigi Ariccia
Die Wolkenhimmel-Deckenfresken des barocken Palazzo Chigi in Ariccia. © Reda and Co/Alamy/Alamy Stock Photos/mauritius images

In gut drei Stunden ist die Seeroute erledigt – zuzüglich einer eventuellen Pause im hoch gelegenen Örtchen Nemi, bei der man die winzigen Walderdbeeren der Region probieren sollte. Unten am Wasser ist es noch ruhiger. Man hört kaum Autos, nur das Rauschen der Bäume. Eselskarren oder schöne Italienerinnen am Brunnen, die etwa der Maler Julius Schnorr von Carolsfeld in der Gegend sah, solchen „Zauber der Romantik“, wie sich sein Kollege Richter ausdrückte, wird man zwar nicht mehr antreffen. Doch das mythische Italien schon: Denn noch im kleinsten Städtchen kann man kulturell Herausragendes entdecken, so im fußläufig entfernten Ariccia den barocken Palazzo Chigi. Zwar nur ein Widerschein von Berninis Rom, kann man hier jedoch unvergleichliche Himmelswolken-Deckenfresken bewundern.

Fährt man weiter Richtung Olevano, sieht man ringsum viele andere liebliche Dörfer auf Bergkämmen liegen. Bellegra, früher Civitella genannt und von den Künstlern geschätzt, auch weil man es von Olevano aus so gut malen kann. In Subiaco klebt das freskenschöne Kloster San Benedetto an der Felswand wie ein gigantisches Schwalbennest. Das dazugehörige etwas weiter unten liegende Hauptkloster skizzierte um 1830 Friedrich Nerly. In Palestrina arbeitete Thomas Mann unter anderem an seinen „Buddenbrooks“, unbedingt sehenswert ist dort aber vor allem das uralte (nur teilweise originale) Nilmosaik im archäologischen Museum: eine echte Sensation! So grundverschieden die Sehenswürdigkeiten der Orte sind, sie alle werden von der Hauptattraktion der Region umfasst: von den hier feinen, dort wilden und harten Linien der Sabiner Berge, die bläulich schimmern oder dunkel leuchten. Mit diesen Linien haben Künstler von Anton Koch über Ludwig Richter und Friedrich Nerly bis Janus la Cour ihr Zeichnen und Malen perfektioniert.

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