Drei neue Bücher feiern den größten deutschen Kunstschriftsteller Julius Meier-Graefe. Florian Illies über einen mutigen Sprachartisten und seine späte Würdigung
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08.05.2023
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Erschienen in
WELTKUNST Nr. 212
Ja, es geht ihm immer darum, dass die herausragende Kunst, die er sieht, seinen ganzen Körper durchdringen kann. Und dass genau aus dieser leidenschaftlichen Inbesitznahme die Präzision der Beschreibung und des Urteils erwächst. „Man hat bei uns immer formuliert, bevor geeignete Erfahrungen da waren“, klagt er. „Dem Denker genügte auch das mangelhafte Kunstwerk zur Auslösung bewundernswerter Gedankengänge. Wir dachten stets über Blumen nach, anstatt zu riechen.“ Dagegen nun also Julius Meier-Graefe: Er atmet Kunst ein, um sie als Sprache wieder auszuatmen. Und genau diesem einzigartigen Atmungsvorgang widmet Catherine Krahmer ihr ganzes Buch.
Im ersten Satz ihres Buches wünscht sie sich, dass ihr Ansatz „zur weiteren Beschäftigung mit diesem einzigartigen Menschen anregen möchte, ein Mensch sui generis, ohne Vorgänger noch Nachfolger“. Es wird sie sehr freuen, dass diese Anregung sofort aufgegriffen wurde – und wir neben dem künftigen Standardwerk, das Catherine Krahmers Biografie darstellt, Julius Meier-Graefe auch durch zwei weitere Bücher auf ungewöhnliche Weise im Originalton kennenlernen können. Zum einen jenen Roman „Der Kampf um das Schloss“, den er 1935 in seinem französischen Exilort in den Monaten vor seinem Tod schrieb und den, wie wir bei Krahmer erfahren, sein Freund René Schickele „mit Schmunzeln“ las. Es ist ein Roman, wie es Julius Meier-Graefe selbst sagte, „über einen Deutschen, der versucht, sich von allen deutschen Belangen frei zu machen“. Es ist also ein ironisches Selbstporträt. Denn natürlich beschreibt er in kaum verklausulierter und leichtfüßiger Form seinen Lebensabend im französischen Saint-Cyr-sur-Mer, es geht um seine junge Frau, um das Boulespielen und um den Pastis, um den ewig scheiternden Versuch, von den Franzosen ernst genommen zu werden, und um die Künstler, die aus Deutschland zu ihm kommen und sein behagliches Leben durcheinanderbringen. Es ist das Verdienst des neu gegründeten Verlages Berlinica von Eva Schweitzer, dass dieses Buch nun, fast hundert Jahre nach der Fertigstellung, erstmals erscheint und uns einen Blick auf einen anderen Meier-Graefe ermöglicht.
Sein ganzes Leben war davon geprägt, dass er zwischen Frankreich und Deutschland vermittelte – absurderweise wurde das von keiner Seite anerkannt. Während er im Kaiserreich lautstark für die Qualität der französischen Maler eintrat, wurden parallel vom Militär die Aufmarschpläne gegen den Erzfeind entwickelt – und 1937 dann hing in der Schmäh-Ausstellung „Entartete Kunst“ ein Porträt von ihm, um zu zeigen, dass er falschen ausländischen Göttern angehangen hatte. Die Franzosen wiederum dankten ihm seinen Einsatz als kultureller Botschafter nie, kein einziges seiner Bücher wurde ins Französische übersetzt, er blieb zeitlebens ein Fremdkörper, als wären sie irritiert über das Ausmaß an Leidenschaft und Liebe, das ihnen da von diesem glühenden Deutschen entgegenschlug.
Genau diesem deutsch-französischen Verhältnis widmet sich in fast allen seiner Bestandteile eine der interessantesten Neuentdeckungen, die die dritte Veröffentlichung zu Julius Meier-Graefe bereithält. Der Schweizer Nimbus Verlag, der sich mit seinen bravourösen Ausgrabungen im Bereich der Kunst- und Kulturgeschichte einen großen Namen gemacht hat, hat mit „Kunst, Kulissen, Ketzereien“ einen Sammelband von Kunstartikeln Meier-Graefes zusammengestellt, der selbst die Kenner zum Staunen bringt. „Denkwürdigkeiten eines Enthusiasten“ hat der Herausgeber Bernhard Echte diesen prallen Band genannt – und die von ihm ausgegrabenen Rezensionen und Kritiken Meier-Graefes auf eine so meisterliche Weise kommentiert und eingeordnet, dass der Apparat zu einem eigenen Leseabenteuer geworden ist. Das Singuläre dieses Kunstschriftstellers fasst Echte kongenial zusammen: „Meier-Graefe bestand darauf, dass man die Kunst verfehle, wenn sie einem nicht zum Erlebnis werde – da sie ihrerseits das Kondensat von Leben war.“
Es ist genau diese Betonung des Erlebnisses, weshalb Meier-Graefe von Anfang an von den Enthusiasten und ihren hungrigen Augen geliebt und von den erfahrungsscheuen Akademikern mit ihren blickdichten Scheuklappen gehasst wurde. Wer nur in einen der Texte in diesem neuen Sammelband hineinspringt, wird jedoch nicht anders können, als sich mitreißen zu lassen von Meier-Graefes Erfahrungshunger. Wie er etwa in einem Text von einer zufälligen Straßenbekanntschaft in Arles erzählt, die sich als Modell Vincent van Goghs entpuppt und wie er aus dieser Begegnung ein Porträt des abwesenden Künstlers entwirft, das in dieser Präzision und Drastik kaum je besser geschrieben wurde: „Der Traum Delacroix’ ist längst zu Ende, die Idylle Corots, die Sentimentalität Millets, die Geschmeidigkeit Manets, die Lyrik Renoirs sind kein Schutz mehr. Van Gogh ist der Schiffbrüchige auf einer Planke mitten im Chaos.“
Oder, wie Meier-Graefe an sich selbst zu beschreiben vermag, wie das immer wieder beschworene Erlebnis des Sehens sich im Laufe des Lebens verändert. Ja, er, der große Propagandist einer „Entwicklungsgeschichte“ in der Kunst, eines Wachsens, Reifens und Vergehens, beobachtet an sich selbst im Jahre 1925 irritiert, dass er inzwischen auf die großen französischen Impressionisten anders schaut als vor dem Krieg: „Die Meister sind klassisch geworden; wir aber haben die Entfernung zwischen uns und dem Klassischen ins Unendliche vergrößert. Die Bilder sind noch genau so, wie sie waren.“ Aber, so schreibt der vom Ersten Weltkrieg, dem Versailler Vertrag und den Wirrnissen der Weimarer Republik durchdrungene Meier-Graefe so ermüdet wie irritiert in seiner Rezension in der Frankfurter Zeitung: „Die Bilder strahlen, nur unser inzwischen matt gewordenes Auge hat das Strahlen verlernt.“ Aus der Verliebtheit, deren Energie Meier-Graefes gesamtes Frühwerk gespeist ist, ist nach Verdun eine andere, verhaltenere und distanziertere Altersliebe geworden. Aber dass er auch dies mit seinen Leserinnen und Lesern teilt, dass er sichtbar macht, dass Sehen immer ein Augenblickseindruck ist und eben auch der Sehende und der Augenblick immer eine Entwicklung nehmen, die sie nicht erahnen und nicht beeinflussen können, genau dies macht Julius Meier-Graefe zu einer so außergewöhnlichen Figur. Lesen wir seine Bücher, lesen wir seine Schriften, lassen wir uns durchdringen von seinem Enthusiasmus – und lassen wir uns von ihm wieder lehren, wie es sich anfühlt, wenn das Betrachten von Kunst zu einem körperlichen Erlebnis wird.
Catherine Krahmer, „Julius Meier-Graefe. Ein Leben für die Kunst“,
Wallstein Verlag, 604 S., 34,90 Euro;
J. Meier-Graefe: „Der Kampf um das Schloss“,
Berlinica, 192 S., 20 Euro;
J. Meier-Graefe: „Kunst, Kulissen, Ketzereien. Denkwürdigkeiten eines Enthusiasten“,
Hg. Bernhard Echte, Nimbus, 320 S., 32 Euro