Jean Tinguely

Meister der Maschine

Das Museum Tinguely hat seine Sammlung neu inszeniert. Zu entdecken ist die kunstvolle Beweglichkeit des Namensgebers

Von Tim Ackermann
05.06.2023
/ Erschienen in WELTKUNST Nr. 211

Ein mechanischer Bühnenvorhang als Ouvertüre. In wenigen Augenblicken wird der Reigen der beseelten Fantasiemaschinen seine seltsame Magie entfalten, in spontanen, eruptiven Gesten, deren Motivation man nicht immer versteht. Doch hier zu Beginn des Ausstellungsparcours ist alles noch einmal ordentlich im Bildgeviert arrangiert: die verbindenden Treibriemen, die rotierenden Holzräder, das schwingende Pendel – alle haben sie gut sichtbar ihren festen Platz im großen Ganzen. Auch der Mensch. Bei der Premiere von „L’Éloge de la folie“ im März 1966 setzte ein echter Balletttänzer die Bildmaschine mithilfe von zwei Fahrradpedalen in Bewegung. Später übernahm diesen Part ein Einspringer aus Holz, den ein kleiner Elektromotor zum Strampeln verdammt. Nun vor die weiße Museumswand gehängt und sanft von hinten beleuchtet, wirkt die luftige, ganz in Schwarz gehaltene Konstruktion immer noch zart und ephemer wie ein Schattenspiel.

Der Künstler Jean Tinguely schuf „L’Éloge de la folie“ einst als Vorhang für Roland Petits gleichnamige Ballettinszenierung am Pariser Théâtre des Champs-Elysées. Jetzt stimmt das Werk geschickt auf die Neupräsentation der Sammlung im Museum Tinguely ein. Es zeigt vieles und verrät doch noch nicht allzu viel. 

In Basel ist man zu Recht stolz auf das mit knapp acht Meter Länge durchaus monumental bemessene Werk. Zwei Jahrzehnte schlummerte es demontiert in Kisten, bevor es vom Museum Tinguely aus dem Nachlass einer Privatsammlung erworben wurde. „Diese Sammlung wurde aufgelöst und für gute Zwecke verkauft. Es war eine Gelegenheit, und wir haben einen Preis bezahlt, der für uns sehr in Ordnung ist“, erzählt Roland Wetzel, Direktor des Museum Tinguely. „Eigentlich haben wir überhaupt keinen Ankaufsetat, außer einem kleinen für Arbeiten auf Papier, nach denen wir uns auch kontinuierlich umsehen. Aber da unser Museum als private Institution vollumfänglich von Roche finanziert ist, unterstützen sie uns auch immer wieder, wenn wichtige Werke auf den Markt kommen.“

Museum Tinguely Basel
Das „Plateau agriculturel“ von 1978 verwandelte Landwirtschaftsmaschinen in Kunst und gilt als Pendant zum Tinguely-Brunnen in der Basler Altstadt. © Courtesy Museum Tinguely, Basel/ VG Bild-Kunst, Bonn 2023, Foto: Christian Baur

Nur wenige Hundert Meter von der Museumstür entfernt kratzen die zwei weißen Bürotürme des Schweizer Pharmaunternehmens Roche den Himmel an. Und so ist die Entstehungsgeschichte der Institution eben auch verknüpft mit der langen Freundschaft des Künstlers zu Paul Sacher, Dirigent und einstiger Roche-Verwaltungsratspräsident, und dessen Frau Maja Sacher. Fünf Jahre nach Jean Tinguelys Tod wurde im Oktober 1996 der vom Tessiner Architekten Mario Botta entworfene Museumsbau am Rheinufer eröffnet. Darin machten die Sachers mit ihrem Sammlungsteil auch Hauptwerke wie den „Mengele-Totentanz“ (1986) zugänglich. Wenig später schenkte Tinguelys Witwe, die Künstlerin Niki de Saint Phalle, 52 Skulpturen aus dem Künstlernachlass. Zu den wichtigen Ankäufen der Folgezeit gehörte ein Konvolut früher Arbeiten aus dem Besitz des schwedischen Museumsmannes und Tinguely-Förderers Pontus Hultén. Heute bewahrt das Museum Tinguely die weltweit größte Anzahl von Werken des Künstlers aus allen Phasen seines Schaffens.

Aus der Sammlung lässt sich also schon ziemlich in die Tiefe hinein inszenieren: Im ersten Raum der neuen Dauerausstellung mit dem Titel „La roue = c’est tout“ („Das Rad ist alles“) ist auch gleich ein „Méta-Malevich, Relief méta-mécanique“ zu sehen. Eines jener rastlosen Wandobjekte also, die Tinguely im Sommer 1954 bei seiner allerersten Einzelausstellung überhaupt in der Pariser Galerie Arnaud vorstellte. Zwei Jahre zuvor waren der freischaffende Dekorateur mit Kunstambitionen und seine erste Frau Eva Aeppli, die er auf der Basler Kunstgewerbeschule kennengelernt hatte, in die französische Hauptstadt gekommen. Wohl am Küchentisch schuf Tinguely seine „Reliefs“, bei denen er Motoren hinter die schwarzen Bildträger montierte, vor denen dann weiße geometrische Elemente dekorativ rotierten. Diese Formen bilden kurzfristige Kompositionen, die einen Augenblick später wieder zerfallen, um die nächste zufällige Verbindung einzugehen. Bei Tinguely ist die konstruktivistische Kunst der Frühmoderne zum Ausdruckstanz eingeladen.

Tinguley Tricycle Basel
Das Museum in Basel besitzt die weltweit größte Sammlung von Jean Tinguelys Werken. Unten frühe Arbeiten aus der Pariser Zeit – auf dem Sockel „Méta-mécanique“ (1955), darüber „Tricycle“ (um 1954), an der Wand zwei „Méta-Malevich“- Reliefs, um 1954. © Courtesy Museum Tinguely, Basel/ VG Bild-Kunst, Bonn 2023

Und man hat seinen Stellenwert ja früh erkannt: Mehrere Werkgruppen durfte der 1925 in Fribourg geborene Schweizer zur wegweisenden Gruppenschau „Le Mouvement“ 1955 in der Galerie Denise René in Paris beisteuern – unter anderem neben den „Méta-Malevich“-Reliefs auch seine erste Malmaschine, die „Machine à dessiner No. 1“. Von dieser gezielten Veralberung der damals diskursdominanten gestischen Abstraktion besitzt das Museum Tinguely das zeitgleich entstandene Pendant mit der Nummer drei. Und vom 1959 geschaffenen Nachfolger „Méta-Matic“ gibt es in Basel nicht nur das Original zu sehen, sondern auch eine fröhlich ratternde Künstlerreplik von 1990, die das Publikum für die eigene Kunstproduktion nutzen darf! Im Nachhinein gesehen war die Schau bei Denise René enorm wichtig, weil sie als erste Ausstellung zur kinetischen Kunst der Nachkriegszeit einen aktuellen Überblick lieferte und gleichzeitig die Kontinuität mit den Avantgarden der Vergangenheit betonte: Neben jungen Künstlern wie Tinguely, Pol Bury oder Jesús Rafael Soto wurden auch Werke von Vorgängern wie Alexander Calders vom Wind bewegte „Mobiles“ oder Marcel Duchamps elektrisch kreiselnde Op-Art-Scheiben, die „Rotary Demispheres“, gezeigt. Und so war schon zu Beginn klar, dass Jean Tinguely die kinetische Kunst nicht erfunden hat. Er hat sie allerdings auf sehr eigensinnige Weise weiterverfolgt und sicherlich am stärksten popularisiert.

Tinguely Skulptur Hannibal
Zur Serie der schwarzen Skulpturen gehört „Hannibal II“ aus dem Jahre 1967. © Courtesy Museum Tinguely, Basel/ VG Bild-Kunst, Bonn 2023

Gut 100.000 Gäste zählt das Museum Tinguely in einem Jahr. Viele kommen wegen der Maschinenskulpturen des Namensgebers. Und mit schlechter Laune ist hier wohl noch niemand wieder hinausgegangen. Es hat mit dem anarchischen Spaß zu tun, den dieser Künstlerbastler beim Erfinden seiner Skulpturen empfunden haben muss und der auch über die Lebensdauer des Schöpfers hinaus ansteckend ist. Zumal Tinguely das Publikum ja bewusst an seinem Schabernack beteiligt hat: Auch er setzte schon in den Sechzigerjahren auf die heute obligatorischen Fußschalter als partizipatives Element, um die Motoren für eine Weile mit Strom zu versorgen. Ein entschlossenes Tippen mit der Zehenspitze – schon hat man den Maschinen ihren Lebensfunken eingehaucht, damit sie im festgelegten Radius ihrer rotierenden Gliedmaßen einen kompletten Nonsens aufführen können. Das ist das Wunder der Kunst, das hier und heute niemand mehr infrage stellen würde. Leichter hat man selten einen Zugang zu ihr gefunden, nie sich williger von ihrem Zauber anstecken lassen. Als „Einsteigermuseum“ bezeichnet Direktor Roland Wetzel deshalb sein Haus: „Wir haben auch ein sehr junges Publikum, und da funktioniert der Anreiz einfach über die Bewegung und nicht nur, indem man etwas an die Wand hängt und erklärt. Es gibt einen unmittelbaren Zugang. Das ist für uns ein großer Trumpf, um Menschen anzuziehen.“ Mit didaktischen Programmen oder auch Sonderausstellungen mit zeitgenössischen Kunstwerken, die sich auf Themen Tinguelys beziehen wird das Publikum dann geschickt an komplexere Themen herangeführt.

Nächste Seite