Die radikale Reduktion machten ihre Werke weltberühmt, ihr Leben war von Brüchen und Rückzug geprägt. Seine Kolumne widmet der Bestseller-Autor Daniel Schreiber Künstlerinnen und Künstlern, die ihn besonders bewegen. Folge 11: Agnes Martin und das Licht der Welt
ShareErst als Martin 1957 erneut nach New York zog, schien ihr Leben beständiger zu werden. Nicht zufällig fiel diese Zeit mit der Geburt ihrer ureigenen künstlerischen Sprache zusammen: der Abstraktion des Rasters. Sie fand im Seaport-Viertel in der Nähe des East River in Lower Manhattan ein Zuhause, wo sich nach dem Siegeszug der abstrakten Expressionisten im Greenwich Village eine neue künstlerische Gemeinschaft herausbildete. Neben ihr zogen Künstlerinnen und Künstler wie Ellsworth Kelly, Jasper Johns, Lenore Tawney oder Robert Indiana in die Lofts der ehemals industriellen Hafengegend, die eigentlich gar nicht als Wohnungen gedacht waren. Sowohl der Minimalismus als auch die Pop-Art wurden maßgeblich in diesem lange vergessenen Viertel New Yorks geprägt.
Martin war Ende vierzig, als sie die Formsprache fand, die sie ihr Leben lang weiterentwickelte und die ihr zu großem Erfolg verhalf. Die Bilder, die in jenen Jahren entstanden, kamen in ihrer radikalen Reduktion einem stillen kunsthistorischen Erdbeben gleich. Auf zumeist quadratischen, großformatigen Leinwänden entwarf Martin mit Blei- und Buntstiften, Öl- und später Acrylfarbe Gitter und Raster in verschiedenen Formen, Ausmaßen und Atmosphären. Sie konnten, wie in ihrer Arbeit „White Flower“ von 1960, als dünne weißen Linien auf einem verwaschenen Graubraun in Erscheinung treten, oder, wie in „Friendship“ von 1963, als Striche auf einer See von Blattgold. Diese Raster hatten wenig mit der industriellen Perfektion und Kühle des Minimalismus gemein, weswegen Martin selbst sie zeitlebens dem abstrakten Expressionismus zuordnete. Wenn man sie sich genau anschaut, wird in jedem dieser Bilder die genaue, stundenlange Handarbeit sichtbar, die für ihre Erschaffung nötig war und deren meditative Qualität sich auf die Betrachtenden zu übertragen scheint. Es sind die Spuren des Lebens, die die unerwartete Kraft dieser Werke ausmachen.
Im Jahr 1967, nach einer persönlichen Krise, fand diese Phase von Martins Leben ein jähes Ende. Sie verließ New York, hörte komplett mit dem Malen auf und reiste anderthalb Jahre mit dem Auto durch die USA und Kanada. Schließlich ließ sie sich in einer verlassenen Gegend in New Mexico nieder, wo sie sich aus traditionellen Adobe-Lehmziegeln ein eigenes Haus in der Wüste baute. Die folgenden Jahre waren von einem Konflikt zwischen ihren kreativen und sozialen Bedürfnissen und ihrer Sehnsucht nach innerem Frieden geprägt. Sie lebte völlig auf sich allein gestellt. Der mehrjährige Rückzug von der Kunstwelt brachte ihr den Ruf einer asketischen Mystikerin ein, der auf einen Teil ihres Lebens tatsächlich zutraf, die Realität ihrer psychischen Probleme jedoch verklärte, denen sie sich in jener Zeit besonders stark stellen musste.
Erst Mitte der Siebzigerjahre begann Martin wieder mit dem Malen. Das Interesse an ihrer Arbeit war ungebrochen. Zwar zog sie innerhalb der Wüste New Mexicos um, ihre Zurückgezogenheit sollte sie jedoch nicht aufgeben. Auch wenn sie immer häufiger Vorträge hielt oder für ihre zahlreicher werdenden Ausstellungen und Retrospektiven durch die Welt reiste, kehrte sie immer wieder in die Stille des Wüstenlebens zurück. Auch als wohlhabende Frau zog sie es vor, in großer Einfachheit zu leben. Erst 1993 zog sie nach Taos, einer etwas größeren Stadt, und baute sich dort ein Leben auf, das sie zwischen einem Atelier, in dem sie malte, und einer Altersresidenz, in der man sich um sie kümmerte, aufteilte. Als sie 2004 im Alter von 92 Jahren starb, galt sie schon viele Jahre lang als einer der bedeutendsten Malerinnen der Welt.
Persönlich haben mich seit jener Reise nach Beacon vor allem Martins spätere Arbeiten angezogen, die in der Zurückgezogenheit von New Mexico entstanden und in denen sie die Raster ihres Frühwerks für ihre ebenso ikonische Formsprache manchmal vertikaler, doch zumeist horizontaler breiter Streifen aufgab. Den großformatigen quadratischen Leinwänden kann man sich nur schlecht entziehen. Ihre changierenden Farben, die mal an das durchscheinende Orangerot der Wüste, das zarte Blau des Himmels, das Blauweiß von Milch oder das verschwindend zarte Gelb eines beginnenden Sonnenaufgangs erinnern, berühren mich immer wieder auf ungeahnte Weise. In jeder psychischen Verfassung, in der ich mich befinde, und mit jedem Abstand, aus dem heraus ich sie sehe, nehmen sie eine andere Qualität an. Sie kommen einem mächtigen Flüstern gleich, das von intensiven psychischen Konflikten und ihrer Auflösung erzählt, vom schwierigen Auf und Ab des Lebens und einer hart erkämpften, doch nachhaltigen Zuversicht. Sie strahlen eine frappierende Verletzlichkeit und eine ebenso frappierende Ruhe aus, die sich auf mich und meinen Körper zu übertragen scheint. Wenn ich mir diese Bilder anschaue, habe ich den Eindruck, etwas über das Leben zu verstehen, das mir vorher nicht bewusst war, fast schon körperlich etwas zu begreifen, dessen Existenz ich zuvor allenfalls geahnt habe. Martins Bilder fühlen sich wie heilsame Wahrnehmungserschütterungen für mich an, die etwas in mir an den richtigen Platz rücken und dafür sorgen, dass sich Stille in mir ausbreitet, wo vorher unterschwelliger Lärm geherrscht hat. Sie wirken wie beinahe spirituelle Ruhepole. Es sind Ekstasen der Stille. Die Essenz des Lichts der Welt.