Wim Wenders hat einen großen Film über den Künstler Anselm Kiefer gedreht. Wir sprachen mit dem Filmemacher über ihre lange Freundschaft, die Inbrunst beim Malen und die Kraft des Loslassens
ShareIn der ersten Szene des Films ist Anselm Kiefer zunächst nur als Schatten zu sehen. Man sieht Skulpturen von Kleidern ohne Kopf und aus dem Off kommt flüsternd ein Hinweis auf die Frauen der Antike, die vergessen wurden. Und vorher ist ein vertontes Gedicht von Ingeborg Bachmann zu hören, „An die Sonne“, das endet mit den Worten: „Klage führen über den unabwendbaren Verlust meiner Augen“. Ist das ein Gleichnis? Ist das gleich zu Beginn eine Todesmetapher?
Zu Beginn hört man nur den schönen Lobpreis der Sonne, was eines der optimistischsten Gedichte von Ingeborg Bachmann ist, von einer Lebensfreude, die mir gut gefallen hat. Was Sie zitieren, hört man erst am Ende des Films. Mir war wichtig, dass der Film in der Natur anfängt und dass es da ‚Zeugen‘ gibt. Anselm hat diesen Frauenfiguren in Barjac in Südfrankreich einen ganzen Saal gewidmet, und viele von ihnen stehen auch draußen im Wald. Mir hat gefallen, dass er diesen großen Figuren der Antike eine Bühne gegeben hat, all diesen Frauen, die wir heute fast nur über die Zeugnisse ihrer männlichen Kollegen kennen. Außer ein wenig von Sappho ist ja nichts überliefert. Mir haben diese Frauen jedenfalls schwer imponiert, als ich sie bei meinem ersten Besuch in Barjac entdeckt habe.
Sie haben sie in Szene gesetzt mit Ihrem Film.
In der Tat. Wenn die Sonne über die Berge kriecht, sind diese ersten Strahlen ein paar Millionen Kilometer gereist. Und mit dem Sonnenlicht erwachen auch diese Frauenfiguren. So wird man gleich eingebettet in die Mythologie, die Anselms Werke durchflutet. Und ich wollte, dass diese Frauen jeweils eine Stimme hätten; sie sind meine Erzählerinnen geworden. Deshalb habe ich sie flüstern lassen, in allen möglichen Sprachen, nicht nur lateinisch und griechisch. Hin und wieder versteht man etwas in deutsch, französisch, englisch, italienisch oder hebräisch. Wir haben lange an diesem ‚Chor‘ gearbeitet. Außerdem mochte ich dieses sonnendurchflutete Glashaus sehr, in dem viele von ihnen stehen, und wir haben die Frauen da sozusagen in einen Reigen, in einen Tanz kommen lassen. Ja, in dem Gedicht von Ingeborg Bachmann kann man auch eine Todessehnsucht entdecken. Aber die Zeile, die Sie zitieren, über den unabwendbaren Verlust der Augen, die haben wir nicht vertont. Stattdessen hört der Film mit einer früheren Zeile auf: „Ohne die Sonne nimmt auch die Kunst wieder den Schleier…”
In dem Film spielen zwei Nachkommen von Ihnen beiden mit. Ihr Großneffe und Anselm Kiefers Sohn. Ist das auch ein Familienfilm?
(lacht) Erstaunlicherweise hat es etwas von einem Familienfilm. Das war nicht geplant, ich hatte ja kein durchgeschriebenes Konzept. Als die Idee kam, Anselms Zeit im Odenwald im Film zu erzählen, habe ich Daniel, Anselms Sohn, interviewt, aber nur um zu erfahren: Wie war das, als du klein warst? Er hat erzählt, dass er oft dabei war und hinten auf dem Fahrrad saß, wenn der Vater umhergezogen ist, um zu fotografieren. Anselm hat viel fotografiert, er hat fast mehr fotografiert als gemalt, als Vorlage für seine Bilder, die nach wie vor meist auf Fotografien basieren. Und weil Daniel seinem Vater ähnlich sieht, habe ich dann kein großes Casting veranstaltet, sondern die Szenen dann lieber gleich mit ihm gedreht…
Und Ihr Großneffe spielt Anselm Kiefer als Kind.
Anselm Kiefer hat noch alle seine Kinderzeichnungen, sein Vater hat die allesamt aufbewahrt. Er hat kein Papier, auf den der Sohn je was gekritzelt hat, weggeschmissen, sondern immer die Jahreszahl drauf notiert. Der Vater war Kunsterzieher, und er hat seinen Sohn wohl auch ein bisschen in diese Richtung geschubst. Als ich auch Anselms Kindheit in den Film mit einbeziehen wollte, habe ich erst nach einem Jungen mit badischem Akzent gesucht, aber rund um Rastatt keinen gefunden, der diese Geistesgegenwart, diese Lebendigkeit, die ich mir für den jungen Anselm gewünscht hätte, mitgebracht hätte. Und dann habe ich auf einer Familienfeier meinen 8-jährigen Großneffen Anton erlebt und wieder gesehen, was der für ein aufgeweckter Kerl war, genauso, wie ich mir Anselm vorgestellt habe, ein Junge, der vor nichts Angst hat und einem die ganze Welt erklären kann. Während des Drehs kam dann ein Tag, an dem Anton und Anselm Kiefer sich tatsächlich begegnet sind, in der Schlussszene des Films am Rhein. Mir war wichtig, dass der Rhein vorkommt. Ich habe als Kind am selben Fluss gestanden wie Anselm, nur 800 Kilometer weiter nördlich, in Düsseldorf. Damals nach dem Krieg, als alle Brücken zerstört waren, und Frankreich am anderen Ufer für Anselm genauso unendlich weit weg war wie die andere Rheinseite für mich.
Anselm Kiefer und Sie sind beide im letzten Kriegsjahr geboren, 1945.
Genau. Und dann kam jedenfalls dieser Moment, an dem Anton und Anselm sich begegnet sind und sich groß angeguckt haben. Anselm hat Anton dann auf die Schultern genommen und zusammen standen die beiden da am Rhein und guckten. Die waren auf einmal ein Herz und eine Seele. Das wurde die letzte Einstellung des Films. Anschließend sind wir noch in die Stadt gefahren, zu Kaffee und Kuchen, da waren die beiden unzertrennlich. Das hat mir das Gefühl gegeben, dass dieser Ausflug in die Kindheit völlig berechtigt war. Es ist der ‚privateste Moment‘ im ganzen Film, als Anselm seine eigene Kindheit sozusagen auf den Schultern trägt.
Sie restaurieren und digitalisieren mit Ihrer Stiftung seit einigen Jahren all Ihre alten Filme. Ist das eher ein Akt der Kontrolle oder des Loslassens?
Es geht vor allem ums Loslassen, nämlich um die Idee, dass diese Filme mir mal ‚gehört haben‘. Jetzt gehören sie sich selbst, sind von mir oder überhaupt von irgendwelchen Personen unabhängig und keiner ‚Kontrolle‘ mehr unterworfen. Die Filme waren ja mal alle weg, und ich hatte keine Rechte mehr daran. Das war eine schwere Zeit, wo ich dann doch gemerkt habe, wie ich an ihnen hänge, ein bisschen so, wie man vielleicht an Kindern hängt. Doch dann habe ich gemerkt, dass es nicht gut ist, wenn ich mich da weiter als eine Art Erziehungsberechtigten sehe. Eigentlich wäre die ideale Existenzform eines Films, dass es niemanden gäbe, der damit Geld verdient, außer sie selbst. Und so ist meiner Frau und mir die Idee mit der Stiftung gekommen. So könnten die Filme tatsächlich der Allgemeinheit gehören, für die sie ja gemacht sind. Filme, selbst die schönen restaurierten 4K-Digitalkopien, die wir jetzt haben, gibt es nur in dem Moment, wo jemand da sitzt, sie sieht und sie schätzt. Erst in dem Moment, wenn er rezipiert wird, gibt es einen Film. Die Stiftung war die beste Idee meines Lebens. Inzwischen sind über 20 der Filme aufwendig restauriert und digitalisiert.
Und wie fühlt sich das für Sie an, wenn Sie Ihre alten Filme wiedersehen? Auf der Website Ihrer Stiftung gibt es einen Dokumentarfilm, in dem man Sie bei der Restaurierungsarbeit sieht. Sie sehen glücklich aus dabei.
Das Verrückte ist, dass man an die Situationen des Drehens normalerweise nicht mehr rankommt, also an den Menschen, der man war, als man diesen oder jenen Film gemacht hat. Wer man selbst war, als man jung war, das ist einem ja wenig zugänglich. Aber wenn ich diese Filme so intensiv wiedersehe, wie das beim Restaurieren notwendig ist, dann steht mir die Erinnerung an die Dreharbeiten wieder deutlich vor Augen, dann weiß ich plötzlich wieder sehr genau, wie das war, etwa 1973 „Alice in den Städten“ zu drehen, was für eine Unschuld es gab, so ein Road Movie zum ersten Mal zu drehen. Es ist gut, sich daran zu erinnern, auch weil man erkennt, dass man zu solch einer Arbeit nicht mehr fähig wäre, allein schon durch all die Zeit dazwischen, die das Filmemachen so radikal verändert haben.
„Anselm. Das Rauschen der Zeit“ von Wim Wenders kommt am 12. Oktober in die deutschen Kinos