Wer James Ensor besuchen wollte, musste zu ihm nach Oostende kommen. Seinem Geburtsort hielt er lebenslang die Treue, heute sind dort seine Spuren und Werke vielfältig präsent
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05.03.2024
Verreist ist er nicht gern. Wann immer ihm ein Ortswechsel schmackhaft gemacht werden sollte, fand James Ensor schnell allerlei Gründe, die dagegensprachen. Am wohlsten fühlte er sich in seiner Heimatstadt Oostende, wo er 1860 geboren wurde und 1949 verstarb. Da er zudem ein eingefleischter Junggeselle war, der jahrzehntelang über dem Kuriositätenladen seines Onkels wohnte, hatte der Maler bald den Ruf eines sich verschanzenden Sonderlings weg. Seine eigenwilligen Bilder, die sich nur schwer in künstlerische Schubladen pressen lassen, festigten diesen Ruf. Wer Ensor treffen wollte (und das waren nicht wenige Künstler und Literaten ab den 1920er Jahren), musste zu ihm nach Oostende kommen. Doch bevor dort über Kunst gesprochen werden durfte, bekamen die Besucher erst einmal die Kompositionen des Hausherrn auf dem Harmonium zu hören. Ensor war es sehr wichtig, dass man ihn auch als Musiker ernst nahm.
Auch heute nähert man sich diesem schrulligen Künstler am besten mit einem Besuch in seiner Heimatstadt. Oostende liegt an der Küste Westflanderns und verfügt als Naturgeschenk über einen endlos langen Strand. Der hatte erheblichen Anteil daran, dass der kleine Hafenort im 19. Jahrhundert zum mondänen Seebad aufstieg. Vom einstigen Glanz ist manches noch heute spürbar, vieles fiel allerdings dem Zweiten Weltkrieg zum Opfer. Zum Glück blieb das schmale Haus in der Vlanderenstraat erhalten, in dem James Ensor seit 1917 lebte und das nun ein Museum ist. Nur wenige Schritte von der Strandpromenade entfernt, taucht man dort ein in Ensors Welt. Wie in einer Zeitkapsel versammeln sich im Erdgeschoss die damals hier von seiner Familie verkauften Andenken: Segelschiffsmodelle, Muscheln, Chinoiserien und anderer Nippes, aber auch die zur Karnevalszeit beliebten Kostüme und Masken. Das gleicht einem Fundus der bekanntesten Motive des Malers und Ensor schien sich dessen bewusst zu sein: Er ließ den Laden zu seinen Lebzeiten unverändert.
Im blauen Salon, ein Stockwerk über dem Geschäft, arbeitete der Künstler und empfing seine Gäste. Schwere Möbel und Teppiche, gemusterte Tapeten, darauf große und kleine Bilder, dazwischen Masken, chinesische Vasen und natürlich das Harmonium entfalten eine überbordende visuelle Fülle aus Formen, Farben und Ornamenten, die selbst wie ein dreidimensionales Ensor-Werk wirkt.
Lange Zeit war dieses schmale Haus, in das kaum zwanzig Leute passen, die einzige Erinnerungsstätte an den Maler in Oostende. Doch seit vier Jahren wird es durch ein benachbartes Erinnerungszentrum ergänzt, das im ehemaligen Hotel Providence Regina seinen Platz gefunden hat. Die Enge des eigentlichen Ensor-Hauses ist in den großzügigen, mit viel Geschick gestalteten Ausstellungsräumen schnell vergessen. Geradezu spielerisch wird man hier durch seine Lebensstationen geführt. Man erfährt, wie sehr ihn seine unmittelbare Umgebung prägte, ermittelt per Knopfdruck, wo überall auf der Welt seine Werke verstreut sind, oder wird informiert, welche Künstler besonders stark von ihm beeinflusst wurden.
Im Entree sticht ein Bilderpaar ins Auge, ein Ensor und eine zeitgenössische Huldigung an ihn. Als Replika ist eines der berühmtesten Bilder des Malers zu sehen, es zeigt den Strand von Oostende. Gesittet geht es da nicht gerade zu, je genauer man hinschaut, umso frivoler wird es: Umkleidekabinen dienen der käuflichen Liebe, ein Spanner zückt sein Fernrohr, zwei Männer tauschen einen Zungenkuss. Die Triebe siegen über die bürgerliche Fassade, der Mensch wird zur Karikatur seiner hehren Ideale. Das provokante Wimmelbild von 1890 hat der belgische Fotograf Athos Burez 2020 von Bewohnern der Stadt nachstellen lassen – ein hübscher Einfall, der den lässigen Umgang der Flamen mit ihrem jüngsten Kunstheiligen illustriert. Ensor steht hier nicht auf einen Sockel, sondern wird für seine Kreativität, Exzentrik und seinen manchmal etwas derben Humor geliebt.
Was am jungen Ensor der 1880er und 1890er Jahre so fasziniert, ist neben seinem malerischen Können sein künstlerischer Wagemut. Er stößt dabei in Bereiche vor, aus denen später ganze Kunstströmungen hervorgehen. Während ein Seestück noch impressionistisch flimmert, experimentieren Stadtansichten schon mit den Möglichkeiten des Expressionismus und der Abstraktion. Das Wimmelbild der Badenden nimmt den Verismus der 1920er Jahre vorweg, ein einsamer Badewagen am Strand die Stimmung bei Edward-Hopper.