Wer James Ensor besuchen wollte, musste zu ihm nach Oostende kommen. Seinem Geburtsort hielt er lebenslang die Treue, heute sind dort seine Spuren und Werke vielfältig präsent
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05.03.2024
Prägnant zeigt sich diese Innovationskraft auch in der aktuellen Ausstellung des „Kunstmuseum aan Zee“, kurz Mu.ZEE. Unter dem Titel „Rose, Rose, Rose à mes yeux“ nimmt sie bis zum 14. April 2024 das Genre des Stilllebens bei Ensor und anderen belgischen Malern seiner Epoche in den Fokus. Da das Mu.ZEE über viele Werke des Künstlers verfügt, kann es mit mehr als 50 Ensor-Bildern aus dem Vollen schöpfen. James Ensor, den man oft auf den „Maler der Masken“ reduziert, hat im Laufe seines Lebens hunderte Stillleben geschaffen und dabei das Genre radikal verändert. Es war in der bürgerlichen Salonkultur Ende des 19. Jahrhunderts immer noch sehr populär, jedoch künstlerisch erschlafft. Die aus dem Dunklen hervorleuchtenden Arrangements von Blumen, Obst, Vögeln, Wild und Krustentieren, aber auch Schmuck und kunstgewerblichen Objekten, hatten ihren ursprünglichen metaphorischen Gehalt verloren. Sie dienten nun rein dekorativen Zwecken, vor allem der Illustration des eigenen Wohlstands.
Auch Ensor folgte zunächst den akademischen Regeln dieses Genres, setzte sie aber schon bald außer Kraft. Seine Palette hellte sich auf, die Farben wurden greller, die Objekte kurioser. Ein mit Zweideutigkeiten spielendes „Theater der Dinge“ trat an die Stelle des Immergleichen. So verwandelt sich bei ihm ein auf einen Holzstock aufgespießter Rochen in eine märchenhafte Maske, während der gleiche Rochen im Zusammenspiel mit der rosa schimmernden Öffnung einer Muschel sexuelle Fantasien freisetzt.
Dabei fällt auch hier Ensors visionäre stilistische Vielfalt ins Auge, die zwischen einem sich gerade etablierenden Symbolismus und einem vorweggenommenen Surrealismus changiert. All das und sein traumwandlerisch virtuoser Umgang mit Licht und Farbe machen ihn zum Avantgardisten, ohne dass er sich mit Haut und Haar einer der künstlerisch vorpreschenden Bewegungen verschreiben musste. Wie einzigartig er war, erschließt sich im direkten Vergleich mit den anderen in Oostende gezeigten Malern. Der opulente Bilderreigen mit Werken u.a. von Hubert Bellis, Léon Spilliaert und Rik Wouters, aber auch zu Unrecht vergessenen Malerinnen wie Berthe Art, Anna Boch und Louise de Hem, ist dank der traditionell grundierten handwerklichen Könnerschaft ein pralles Sehvergnügen, lässt aber nur gelegentlich Individualität und Experimentierlust hervorblitzen. Erst am Ende der Ausstellung setzen zwei Stillleben von Magritte einen Ensor ebenbürtigen Schlusspunkt, der das Genre mehr oder weniger zum Implodieren bringt.
Neben diesem Blockbuster bietet Oostende 2024 noch viel mehr, ja stellt sogar ein neunmonatiges Stadtfestival auf die Beine, das weitere interessante Ausstellungen umrahmt. Ab 21. März werden im Ensor-Haus die Selbstporträts des Malers gezeigt. Sie spielen in seinem Werk eine wichtige Rolle: Ob mit Blumenhut oder als Knochenmann im himmelblauen Anzug – Ensor präsentierte sich auf ganz unterschiedliche Weise und reflektierte dabei seine innere Befindlichkeit. Im Herbst folgt dort eine Ausstellung über „Satire,Parodie, Pastiche“ bei Ensor. In den Venezianischen Galerien geht es ab Ende Juni um sein Verhältnis zur Stadt. Dort wird auch endgültig sein Eremiten-Mythos abgeräumt, denn am Stadtleben Oostendes beteiligte sich der Maler durchaus aktiv. Und im Fort Napoleon, das sich mit seinen Kinderausstellungen einen guten Ruf erarbeitet hat, wird eine interaktive Suchtour für die ganze Familie angeboten, der ein Kinderbuch über Ensor zugrunde liegt. Lauter gute Gründe also für einen Ausflug an die belgische Nordsee, um das Leben und die Werke eines ungewöhnlichen Künstlers kennenzulernen.