Ugo Rondinone in Paris

Heiter und schwer

Ugo Rondinones vielfältige Kunst ist auf der ganzen Welt gefragt. Wir haben ihn in seiner neuen Wohnung in Paris besucht und mit ihm über Steine, Blitze und Caspar David Friedrich gesprochen

Von Lisa Zeitz
20.09.2024
/ Erschienen in Weltkunst Nr. 231

Paris ist heiß und der Straßenverkehr stockt im Olympiasommer, da fühlt sich der kleine Hinterhof des Théatre du Vieux Colombier an wie eine kühle, ruhige Oase. Im Schatten von Platanen wachsen Farne, und neben einem dunkelgrünen Tisch mit zwei Gartenbänken blüht eine einzelne gelbe Rose. Das historische Theater, in dem Sartres „Geschlossene Gesellschaft“ uraufgeführt wurde und dem die Straße ihren Namen verdankt, gehört zu den Häusern der Comédie-Française. In den Pausen sitzen unter den Bäumen die Schauspieler und die Bühnenbildnerinnen, die hier im Hof einen Schuppen für ihre Materialien haben, erklärt Ugo Rondinone. Er ist aus seiner Wohnung auf der rückwärtigen Hofseite getreten. Das Backsteingebäude aus dem 19. Jahrhundert hat drei Stock- werke mit großen Atelierfenstern nach Norden. Ganz oben, sagt der Künstler, lebt eine hundertjährige Dame, in der Mitte baut er gerade sein Atelier aus, und sein eigenes Appartement befindet sich im Erdgeschoss.

Die Flügeltür zum Wohnzimmer steht offen, und es überrascht, wie ländlich, aufgeräumt und einladend die ganze Szene hier mitten im 6. Arrondissement von Paris ist: die Farne vor seiner Wohnung, die offene Tür, seine hochgekrempelte Hose und die bloßen Füße. Ugo Rondinones Stimme hat einen schweizerischen Klang. Man hat sofort den Eindruck, es mit einem behutsamen, feinen Menschen zu tun zu haben, einem Menschen, der mit sich im Reinen ist und einen ausgeprägten Sinn für Schönheit hat – wie sonst könnten wir uns an einem so verzauberten Ort treffen?

Bevor wir uns im Hof an den Tisch setzen, um über seine Kunst und sein Leben zu sprechen, macht er eine kleine Führung. Der 300 Jahre alte Holzboden stammt aus einem französischen Schloss, und über den Sesseln schwebt ein Lampenobjekt des kalifornischen Künstlers Joel Otterson, „Bottoms Up“ aus blauen und grünen Gläsern und Flaschen. Auf einer schmalen Galerie trennt ein Vorhang das Schlafzimmer ab, nach unten führt eine Treppe zu einem rustikalen Souterrain mit Gästezimmer. Rondinone ist nicht nur Künstler, sondern auch Sammler: In einem Regal aus rohem Tannenholz stehen Vasen aus den Fünfziger- und Sechzigerjahren von Aldo Londi. Aus einem der unteren Fächer, die Türen aus Kaninchendraht haben, nimmt er vorsichtig einen Steingut-Teller heraus und zeigt das kuriose Dekor, von Hokusai inspirierte Tiermotive, Enten, Kröten und Schmetterlinge. Das „Rousseau“-Service sagt er, ist ein frühes Beispiel für den französischen Japonismus der 1860er-Jahre.

Die Wohnung Ugo Rondinones in Paris
Die Wohnung Ugo Rondinones in Paris. © Kira Bunse

An der Wand lehnt eine seiner Fensterskulpturen aus Aluminium. „2014 habe ich begonnen, Fenster aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert zu sammeln. Die Fenster wurden in der Zeit angefertigt, als Caspar David Friedrich seine Bilder gemalt hat.“ Von den Fenstern, erklärt er, fertigt er jeweils eine Negativform an und ordnet jeden Abguss einem bestimmten Bild von Friedrich zu. Er kippt die silbrig schimmernde Tafel nach vorne und deutet auf die Beschriftung, die mit Filzstift auf der Rückseite steht: „owl on a tree, 1834“. Das überlieferte Œuvre des Romantikers, 160 Gemälde, sagt Rondinone, gebe ihm nun eine Begrenzung für die Fensterserie vor. Rund 24 davon hat er schon verwirklicht, per Suchauftrag findet er im Internet immer mal wieder weitere historische Fenster. Die Romantik ist für Rondinones Werk von großer Bedeutung: „Seit Mitte des 18. Jahrhunderts brachte sie als Reaktion auf eine immer schneller, industrieller und rationaler werdende Welt ein naturbezogenes, ganzheitliches Denken hervor, das die Welt als Kontinuum sah, in dem alles mit allem zusammenhängt“, erläutert er. „Künstler sehnten sich nach intensiven Gefühlserlebnissen, besannen sich auf kindliche Authentizität und auf die Irrationalität von Träumen, Magie und Märchen.“

An einer unverputzten Bruchsteinwand hängen zwei wolkenartige Gebilde aus seiner „cloud“-Serie, sie wirken gleichzeitig leicht und – aus Beton, Sand und Kieseln – sehr schwer. Solche Gegensätze sind oft in Rondinones Kunst zu finden, auch das Changieren zwischen Ernst und Heiterkeit, zwischen Spiel und Versenkung. Die Wolken, ebenfalls ein Motiv der Romantik, erinnern in ihrer soliden Form an die asymmetrischen Gelehrtensteine, die schon vor 2000 Jahren in China als Meditationsobjekte geschätzt wurden. Auch diese Steine sammelt Rondinone übrigens, aber nicht in Paris. Die Wohnung hier ist sein pied-à-terre, sein Hauptwohnsitz ist seit mehr als einem Vierteljahrhundert New York, wo er in einer umgebauten Kirche in Harlem lebt und sein Atelier mit rund zwölf Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern unterhält, je nach Projekt auch mal mehr.

Die Kindheit inspiriert Ugo Rondinone

Ugo Rondinone wurde 1964 in der kleinen Ortschaft Brunnen am Vierwaldstättersee als Kind italienischer Einwanderer geboren. „Mein Vater ist Steinmetz, das hat mich geprägt“, erzählt er, als wir uns an den Tisch im Hof gesetzt haben. „Meine Eltern kommen aus dem Städtchen Matera, so habe ich als Kind jeden Sommer in Süditalien verbracht. Es ist die zweitälteste Stadt nach Aleppo, die kontinuierlich seit der Steinzeit bewohnt ist, ein Tuff- und Sandsteinmassiv, in dem es relativ einfach war, Höhlen zu graben.“ Als junge Leute haben auch seine Großeltern noch in diesen verschachtelten Höhlenwohnungen gelebt, die heute als Unesco-Weltkulturerbe denkmalgeschützt sind. Die Stadt wird auch Sassi genannt, weil die verwinkelten Häuser aus- sehen wie aufeinandergesetzte Steine (italienisch: sassi). „So hat mich das Material Stein einerseits in der Innerschweiz geprägt, weil ich in einem kleinen Tal aufgewachsen bin, in dem sich die Berge rechts und links hoch auftürmen, und gleichzeitig gab es die Verbindung zu Süditalien. Dort beginnt die Dualität. Die zwei Landschaften könnten nicht unterschiedlicher sein, grau und sandgrau Matera, grün mit blauen Seen die Schweiz.“ Jeder Künstler ziehe seine Inspiration aus seiner Kindheit, sagt er. „Das ist das große Reservoir, das man aufbaut, das die Psyche prägt.“

„sechstermaizweitausendundvierundzwanzig“ von Ugo Rondinone (2024)
„sechstermaizweitausendundvierundzwanzig“ von Ugo Rondinone (2024). © Courtesy the artist, Galerie Eva Presenhuber, Mennour, Esther Schipper, Gladstone Gallery, Kukje Gallery, und Sadie Coles HQ, Foto: Studio Rondinone

Wenige Tage nach meinem Besuch in Paris wird seine Retrospektive im Kunstmuseum Luzern beginnen. An der Museumsfassade ist Rondinones „cry me a river“ von 1997 angebracht, seine erste Regenbogenskulptur, die nun über der Mündung des Flusses Reuss in den Vierwaldstättersee prangt. Regenbogen, Wolken, Schnee und Blitze, Bäume und Steine: Ugo Rondinones Interesse an Naturphänomenen und ihrer künstlerischen Darstellung ist in seiner Kunst immer präsent. Der Regenbogen ist ein Naturschauspiel, über das sich die Menschen freuen, eine verbindende Brücke, und gleichzeitig, auch das ist ihm wichtig, ist es ein Verweis auf die queere Community, denn Mitte der Neunzigerjahre wurden Schwule nach wie vor marginalisiert. Luzern ist für ihn „eine Rückkehr, eine Heimkehr“, nicht nur weil sein Heimatort Brunnen wenige Kilometer weiter am Ufer desselben Sees liegt. Im selben Museum hatte er vor 35 Jahren auch seine erste institutionelle Ausstellung.

Als Jugendlicher war für Rondinone der amerikanische Bildhauer Jonathan Borofsky prägend, den er in der Kunsthalle Basel gesehen hatte. Überhaupt, sagt er, habe ihn das Programm des damaligen Direktors Jean-Christophe Ammann beeindruckt. Borofsky, der Minimalismus und PopArt verbindet, habe ihm mit seinem „labyrinthischen Denken“ Türen geöffnet: „Es verläuft in Verzweigungen, es ist nicht geradlinig, sondern verästelt sich. Man kann gleichzeitig in verschiedene Richtungen gehen.“ Rondinone beschreibt diesen Einfluss mit zwei Werkgruppen, die er als junger Künstler Anfang der Neunzigerjahre begonnen hat: einerseits große, altmeisterlich wirkende Landschaftszeichnungen und andererseits kreisförmige Sonnenbilder, die wie Zielscheiben aussehen, ohne sichtbare Handschrift „mit ineinander verlaufenden Farbbändern, sodass sich der Fokus entzieht“. Sie sind so unterschiedlich, dass Einzelpräsentationen von Rondinone des Öfteren für Gruppenausstellungen gehalten wurden, erst recht, seit er auch mit Wachs, Ton, Stein, Neon, Glas, Aluminium, Fotografie, Video, Sound und vielen anderen Medien arbeitet.

Erste Stationen in der Kunstwelt

Als Neunzehnjähriger kam er durch einen Job bei einer Zürcher Galerie für drei Monate als Assistent des Wiener Aktionskünstlers Hermann Nitsch zum „Orgien Mysterien Theater“ auf Schloss Prinzendorf. „Für einen Neunzehnjährigen hatte das eine große Anziehung, das war mein erster Schritt in eine reale Kunstwelt“, sagt er, und so entschied er sich, nach Wien zu gehen, um an der Akademie der bildenden Künste zu studieren. Für sein Leben – und seine Kunst – wurde schon bald der Tod zum einschneidenden Erlebnis. 1988 starb sein erster Freund Manfred Welser an Aids. Um ihn herum wurden immer mehr Leute krank. „Ich habe gedacht, das wäre auch mein Schicksal, und so wollte ich nur noch täglich das Leben genießen, nicht mehr im feuchten Kellerstudio, sondern draußen in der Natur.“

Im Wiener Park entstanden die ersten Landschaftszeichnungen, die er später mit chinesischen Tuschpinseln auf monumentale Formate von mehr als zwei Meter Breite vergrößerte. Die Motive orientieren sich an Werken des 16. und 17. Jahrhunderts und vor allem an der Romantik. „Das war damals in Wien kein Diskussionsfeld, da hat man über anderes gesprochen als über Landschaften. Im Glauben, meine Lebenszeit als schwuler Mann sei durch die Aids-Krise begrenzt, war die Romantik ein Rückzugsort, wo alles möglich war. Das erlaubte mir, über die Kunst Gefühle zu zeigen.“ Ein halbes Jahr später schuf er die Kreisbilder, die er Sonnen nennt. Während die Tuschezeichnungen in die Vergangenheit gerichtet sind – „Man sieht darauf keine Zivilisation, es gibt noch keine industrielle Revolution“ –, stehen die Sonnenbilder für die Zukunft, die Zielscheibe sieht der Künstler als ein Grundmotiv der Moderne. „Dieses duale Denken präsentiert beide Seiten, ohne zu werten.“

Ugo Rondinone „the alphabet of my mothers and fathers“ (2022)
Ugo Rondinones „the alphabet of my mothers and fathers“ (2022). © Foto: David Regen

Nächste Seite