Ugo Rondinones vielfältige Kunst ist auf der ganzen Welt gefragt. Wir haben ihn in seiner neuen Wohnung in Paris besucht und mit ihm über Steine, Blitze und Caspar David Friedrich gesprochen
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20.09.2024
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Erschienen in
Weltkunst Nr. 231
Die Landschaftszeichnungen, die schon 1989 in Luzern ausgestellt waren, tragen Titel wie „siebtermärzneunzehnhundertneunundachtzig“. Das Datum erscheint als Wort und hat für Rondinone die Funktion eines Tagebuchs. „Die Idee war, dass ich diese Daten bis zu meinem Ableben mache, quasi das Werk als Zeugnis meines Lebens. Das Bild selbst zeigt einen Raum, Zeit und Raum sind gleichwertig.“ Das System für die Bezeichnung seiner Bilder nutzt er bis heute. In der aktuellen, von der Museumsdirektorin Fanni Fetzer kuratierten Schau in Luzern gibt es auch sechs Meter breite Aquarelle mit Ansichten des Vierwaldstättersees, das jüngste heißt „Siebtermaizweitausendvierundzwanzig“.
Während des Kunststudiums lernte Rondinone Eva Presenhuber kennen, mit der er immer noch eng befreundet ist und die ihn schon seit Jahrzehnten als Galeristin vertritt. Die beiden zogen zusammen nach Zürich, und bis heute fühlt er sich durch sie fest mit der Schweiz verbunden. „Durch diese gute Verwurzelung konnte ich in die Welt hinaus.“ Für einige Jahre lebte er in Berlin, und 1997 zog er nach Manhattan. Dort sah er in der St. Mark’s Church eine Performance des New Yorker Künstlers und Poeten John Giorno. (Andy Warhol verewigte ihn in den Sechzigerjahren mit seinem Film „Sleep“, der aktuell in der Neuen Nationalgalerie in Berlin zu sehen ist.) „Die Liebe veränderte alles“, sagt der Künstler. Über zwanzig Jahre, bis zu Giornos Tod, waren die beiden ein Paar.
Die neue Wohnung in Paris hat indirekt auch mit diesem Einschnitt zu tun. „Mein Ehemann John starb im Oktober 2019. Kurz darauf, während des Covid-Lockdowns, suchte ich nach einem Ausweg. Ich hatte New York durch seine Augen entdeckt, nun wollte ich nicht mehr ausschließlich dort sein.“ Als er in Paris in Vorbereitung einer Ausstellung im Petit Palais war, zeigte jemand ihm dieses Gebäude. „Das kam gerade richtig. Zuerst dachte ich, ich werde alle Zelte abbrechen und wieder nach Europa kommen. Aber wenn man etwas aufgebaut hat und so lange in einer Stadt gelebt hat, geht das nicht so schnell.“ Vorerst plant er, den Herbst und Frühling in Paris zu verbringen. Seine Videoarbeit „Burn to Shine“, die letztes Jahr im Petit Palais zu sehen war, zitiert ein Gedicht von John Giorno, das sich auf ein buddhistisches Sprichwort zur Koexistenz von Leben und Tod und auf den griechischen Mythos des unsterblichen Phoenix bezieht, die Erneuerung durch Verbrennen.
Kürzlich schlug in Rondinones Garten in Long Island ein Blitz ein und wurde zur Idee für eine neue Serie von Skulpturen. Eine alte Eiche war „geradezu explodiert“. Der Künstler suchte neun Äste heraus, erstellte 3-D-Scans, manipulierte sie und stellte sie auf den Kopf, dann vergrößerte er die Formen, ließ sie in Metall gießen und in grellem Gelb fassen. Die „lights“ sind eine Fortführung früherer Werke, Abgüsse uralter Olivenbäume aus der Basilikata hatte er zum Beispiel 2007 zur Biennale nach Venedig gebracht. „In der Romantik wurde der Baum das Sinnbild menschlicher Existenz. Im Baum akkumuliert sich Zeit. Bäume sind Lebensuhren, die über Jahrtausende ticken können.“ Im Juni hat Eva Presenhuber „luminous light“ (2023) aus der Blitz-Serie auf der Art Basel gezeigt, und fünf haushohe „lights“ sind in Luzern zu sehen. Die Wirkung ist beeindruckend, der Baum selbst scheint zum Blitz zu werden. „Die Entstehung so einer Skulptur ist nicht einfach, sie dauert rund ein Jahr, aber die Idee muss gleich da sein. ‘If it’s not easy, it’s shit.‘ Meine Arbeiten sind nicht kompliziert.“
Noch eine weitere Serie ist auf Long Island geboren. Ihm fielen dort die alten landwirtschaftlichen Werkzeuge ins Auge, die wie die seiner italienischen Großeltern aussehen. Das war kein Zufall, fand er heraus: Um die Jahrhundertwende und Anfang des 20. Jahrhunderts stammten 85 Prozent der Landarbeiter auf Long Island aus Italien. Per Suchanzeige findet er nun die Geräte, zieht von Farm zu Farm, kauft den Leuten die Sensen, Sägen und Schaufeln ab und lässt sie vergolden. Dann komponiert er jeweils 26 Objekte auf einer Tafel. Mit dem Titel „the alphabet of my mothers and fathers“ spielt er darauf an, dass seine Großeltern, typisch für die Landarbeiterfamilien damals, weder lesen noch schreiben konnten.
In Luzern ist in dem Saal mit den fünf Blitzen auch eine lebensgroße Figur installiert. Es ist ein Selbstbildnis des Künstlers als junger Mann, der an die Wand gelehnt dasitzt. „Nicht melancholisch, sondern passiv“, beschreibt Rondinone die Figur. Wie passt das zu einem Künstler, der vor Ideen sprüht und auf der ganzen Welt gefragt ist, in Nevada und Korea, Doha, Liverpool und Künzelsau? Aktivität und Passivität, auch das ist eine notwendige Dualität: „Wenn man passiv ist, dann wartet man einfach ab. Ich sehe eine Figur, die in sich ruht und aufnimmt, was auf sie zukommt.“