Eileen Gray

Geliebte des Meeres

Eileen Grays moderne Ikone E.1027 an der Côte d’Azur ist derzeit in einem neuen Film zu bestaunen. Eine Architektur, die zum Träumen einlädt

Von Laura Helena Wurth
02.12.2024
/ Erschienen in WELTKUNST Nr. 194

Zwischen den Felsen glitzert das Meer hier im südfranzösischen Roquebrune Cap-Martin. Ein paar Kinder paddeln auf Surfbrettern einem Schlauchboot hinterher. Ihr Lachen dringt zu dem weißen Haus hinauf, das sich so weich und elegant in die Landschaft einfügt, dass man es von Weitem vielleicht sogar übersehen könnte.

Sechs Jahre lang wurde dieses bemerkenswerte Haus nach genauen Denkmalschutzauflagen renoviert, um die Vision seiner Erbauerin Eileen Gray so exakt wie möglich nachzubilden – und seit Juni 2021 ist es in den Sommermonaten wieder für Besucherinnen und Besucher geöffnet. Endlich, möchte man sagen. Denn das Haus ist nicht irgendein Haus. Es ist ein Haus, das viele verschiedene Geschichten erzählen kann. Dazu gehört die Geschichte der Moderne, die Geschichte weiblicher Architektur und Autorenschaft, aber auch die Geschichte davon, wie Architektur aussehen kann, wenn sie für die Liebe gemacht ist. Wie kitschig es auch klingen mag, es entspricht dem Grundgedanken von Grays Design, das von den Bedürfnissen seiner Bewohner ausgeht.

Geboren in Irland 1878, wurde sie nach ihrer Ausbildung in England in Paris Teil der blühenden Avantgarde. Sie schuf Paravents, die sie mit japanischer Lacktechnik bearbeitete, verkehrte in Gertrude Steins Pariser Salons und ist auch einmal mit einem Panther auf dem Rücksitz ihres Wagens gesehen worden. 1922 gründete sie eine eigene Galerie für Interiordesign, gab ihr den Männernamen Jean Désert und verkaufte Teppiche und Einrichtungsgegenstände aus der eigenen Werkstatt. Heute erreichen ihre Möbel auf Auktionen immer wieder Millionenpreise.

Eileen Gray
Die Architektur ist perfekt für ein Liebespaar, wie Eileen Gray und Jean Badovici es waren, mit verlockenden Plätzen zum süßen Nichtstun. Oberhalb baute Le Corbusier in den Fünfzigerjahren bunte Campingwohnungen. © Benjamin Gavaudo / Centre des monuments nationaux / 2024 / VG Bild-Kunst, Bonn 2024

Als Gray 1926 an die Küste Südfrankreichs kam, war sie Ende vierzig und mit dem 15 Jahre jüngeren Jean Badovici liiert, der zwar Architekt war, aber als Architekturkritiker arbeitete. Weil sie als Irin in Frankreich kein Land kaufen konnte, erwarb sie das Grundstück in seinem Namen. Bevor sie mit den konkreten Plänen für das Haus begann – sie war eine kühne Designerin, aber keine ausgebildete Architektin –, verordnete sie sich selbst eine Art Ministudium, bei dem sie sich nicht nur mit Architektur im Allgemeinen auseinandersetzte und zum Beispiel die Weissenhofsiedlung in Stuttgart besuchte, sondern auch speziell mit dem felsigen Küstenterrain, auf dem sie bauen wollte. Sie beobachtete genau, wo die Sonne aufging, wie der Wind seine Richtung wechselte, und überlegte, zu welcher Tageszeit man sich wohl am liebsten in welchem Teil des neuen Hauses würde aufhalten wollen. Es war ein Haus, das sie für sich und ihren Geliebten baute. So ist auch der Name E.1027 als Umarmung zu verstehen: Das E steht für Eileen, die 10 für das J von Jean im Alphabet, die 2 für B wie Badovici und die 7 für G wie Gray. Ihr Name umarmt den ihres Partners. Auch das Haus selbst erzählt von einer innigen Beziehung. Deren Ende 1932 kann nicht am Haus gelegen haben, denn es ist genau dafür gebaut, zusammen zu sein und sich dennoch zurückziehen zu können.

Eileen Gray hat das lang gezogene, terrassierte Flachdachhaus auch ihr „Boot“ genannt. Und wenn man so darin herumgeht, neuerdings nur noch mit einer Führung, dann versteht man auch, warum. Der Balkon ist wie eine Reling, von der aus man auf den Ozean schauen kann. Sogar ein Rettungsring hängt draußen. Ein kleiner Ausguck quasi am Heck des Hauses hält eine Hängematte bereit, und über eine verglaste Wendeltreppe gelangt man aufs Dach. Das Haus steht auf Pfeilern, die darunter einen überdachten und sonnengeschützen Bereich ergeben, der im französischen Hochsommer ein guter Ort für einen Aperitif gewesen sein muss.

Wie es sich für ein Ferienhaus gehört, gibt es etliche Sitzgelegenheiten und kleine Nischen, die zur Entspannung und zur sommerlichen Muße einladen. Hier musste man keinen durchgetakteten Alltag bestehen, sondern lediglich ein paar verliebte Sommermonate, in denen man sich aufgrund von träger Hitze eh lieber in der Horizontalen wiederfindet. Weil das Haus eben nicht auf Produktivität und städtische Sichtbarkeit angelegt ist, erzählt es umso deutlicher von den Bedürfnissen, die übrig bleiben, wenn man nicht von äußeren Umständen getrieben wird. Hier eine Chaiselongue, dort eine Hängematte. Wenn man wollte, könnte man seinen Tag ausschließlich liegend in den verschiedenen Räumen verbringen. Sicherlich auch ein Hinweis darauf, dass das Haus nicht für eine Familie oder Einzelperson erdacht wurde, sondern für ein Paar. Die Weltkarte, die hinter dem Bett im Hauptraum hängt, hat Gray mit den Worten „Invitation au voyage“ versehen. Wobei man die Reise vielleicht gar nicht als Aufforderung zur räumlichen Veränderung sehen muss, sondern vielmehr als Reise, die man mit einer Partnerschaft antritt.

Ähnlich wie auf einem Boot ging Gray die Inneneinrichtung des kleinen Hauses an. Während auf einem schwankenden Boot alles in festen Einbauten verstaut wird, galt für Gray die Prämisse, dass die Architektur ihr eigener Schmuck sei und die Einrichtung darin verschwinden sollte. Deswegen haben die meisten Einbauten im Inneren Doppelfunktionen: Der Schrank fungiert als Wand, der Tisch als Arbeits- sowie als Esstisch. Er ist mit Kork verkleidet, sodass man bereits am Schreibtisch arbeiten kann, wenn der Partner in dem offenen Schlaf- und Wohnraum noch döst, ohne dass man diesen durch das Klackern des Stifts wecken würde. So exakt bedachte sie die verschiedenen Bedürfnisse der zukünftigen Bewohner des Hauses, Badovici und sie selbst.

Eileen Gray Balkon und Wohnzimmer
Balkon und Wohnzimmer. © Benjamin Gavaudo / Centre des monuments nationaux 103573 / 2024

Die Architektur versucht erst gar nicht, mit dem angrenzenden Meer um Aufmerksamkeit zu konkurrieren, sondern überlässt ihm die Bühne. Und so kann man die ursprünglich weißen Wände und das Äußere des Hauses auch als Leinwände begreifen, auf denen die Sonne und die Reflexion des Mittelmeers ihre Bilder malen.

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