Eileen Grays moderne Ikone E.1027 an der Côte d’Azur ist derzeit in einem neuen Film zu bestaunen. Eine Architektur, die zum Träumen einlädt
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02.12.2024
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Erschienen in
WELTKUNST Nr. 194
Auch wenn Gray sich formal an die 1923 von Le Corbusier formulierten Grundsätze einer neuen Architektur (Pfosten, Dachgärten, freie Grundrissgestaltung, Langfenster, freie Fassadengestaltung) gehalten hat, ist ihr Haus das absolute Gegenteil seiner „Wohnmaschine“. Die gerade einmal 120 Quadratmeter große Villa ist so individuell gestaltet, dass jeder Bewohner sich zu jedem Zeitpunkt auch zurückziehen konnte. Gray sagte einmal: „Ein Haus ist keine Maschine, es ist das Gehäuse, die Schale des Menschen, seine Befreiung, seine spirituelle Ausstrahlung.“
Le Corbusier, den die beiden aus Paris kannten, verbrachte nach der Trennung und dem damit verbundenen Auszug Grays 1932 viel Zeit bei seinem Freund Badovici. Er und Badovici hingen in dem klugen Haus herum, tranken vermutlich zu viel und eines Tages im Jahr 1938 begann Le Corbusier – nackt, wie ein Foto zeigt –, die weißen Wände des Hauses in bunten Farben mit nackten Frauen zu bemalen. Man kann das als eine Fortführung des modernen Gedankens des Remix und des Vermischens von Disziplinen betrachten. Man kann sich aber auch fragen, wie Badovici, eine solche Einmischung in die Vision seiner ehemaligen Partnerin zulassen konnte.
Jennifer Goff, die eine umfassende Biografie zu Gray veröffentlicht hat, argumentiert, dass sowohl Badovici als auch Le Corbusier Schuld trifft. Denn die provokanten Bilder, die auch eine Anspielung auf Grays Bisexualität gewesen sein können, brechen die Klarheit und die Eleganz des Hauses. Auch die Idee einer weißen Leinwand für das Meer wird zerstört und sämtliche Grundsätze ihrer Architektur im wahrsten Sinne verdeckt. Die Fotografien, die Le Corbusier nur mit Schuhen und Brille bekleidet beim Malen seiner Wandbilder zeigen, verdeutlichen die Absurdität, die in dieser Geste lag. Gray galt als eine eher zurückgezogene und schüchterne Person. Nachdem sie von den Wandbildern erfahren hatte, sollte sie E.1027 nie wieder besuchen. Sie starb 1976 mit fast hundert Jahren in Paris und hat sich nie wieder ausführlicher dazu geäußert. Dadurch verwischte sich fast bis ins Jahr 2000 auch ihre Autorschaft.
In der von Badovici herausgegebenen Zeitschrift L’Architecture Vivante stellte er in der Ausgabe von 1929 das Haus „Maison en bord de mer“ vor. Darin werden Gray und Badovici fälschlicherweise als gleichberechtigte Erbauer genannt. Da später allerdings ausschließlich er mit dem Haus in Verbindung gebracht wurde und nach seinem Tod Le Corbusier, war lange Zeit nicht klar, dass das Haus gänzlich Eileen Gray zugeschrieben werden muss. Dadurch, dass sie sich bis zu ihrem Tod immer weiter zurückzog, war ihr Werk in den Sechzigerjahren fast vergessen.
Le Corbusier hatte sich 1952, als Gray schon lange nicht mehr im Süden gewesen war, auf dem Hügel über E.1027 sein Cabanon sowie angrenzende Camping-Wohneinheiten bauen lassen. Bunt und aus Holz heben sie sich ästhetisch und formal von E.1027 ab. Bis er 1965 beim Schwimmen unter- halb des Hauses einen Herzschlag erlitt und ertrank, verbrachte der große Architekt viel Zeit dort und konnte von seinem Cabanon immer auf das weiße, elegante Haus blicken, das er sich mit seinen Wandbemalungen auf gewisse Weise auch unterworfen hatte.
Doch er bemühte sich auch um den Erhalt des Hauses. Da er nach Badovicis Tod 1956 nicht über die finanziellen Mittel verfügte, um es selbst zu kaufen, überredete er seine Schweizer Bewunderin Marie-Louise Schelbert. Man kann davon ausgehen, dass er sie im Glauben ließ, dass das Haus seinem Genie entsprungen wäre. Nach einigen irren Wendungen, in denen es nach Schelberts Tod in den 1980er-Jahren ihrem Gynäkologen gehörte, der einen Großteil der Möbel wegen seiner Morphiumsucht verscherbelte und dort 1996 von seinem Gärtner ermordet wurde, ist es heute im Besitz der Conservatoire du littoral, einer regionalen Behörde für Kulturgüterschutz.
Bei der sorgfältigen Restaurierung hat man nun auch die Wandbemalungen sichtbar erhalten, obwohl Sandra Gering, die 1998 den Verein Friends of E.1027 gründete, vor wenigen Jahren noch sagte, dass man sie entfernen und in einem eigens dafür hergerichteten Gebäude wieder anbringen wolle. Ihr Ziel war es, den ursprünglichen von Gray erdachten Zustand gänzlich wieder herzustellen. Sie empfand die Geste Le Corbusiers als die eines Hundes, der sein Terrain markiert. Überdeckt hat man indes nur die Bemalung der Wand im Hauptraum: Hinter der Karte „Invitation au voyage“ verbirgt sich eines der Bilder Le Corbusiers. Die anderen hat man erhalten und ebenfalls sorgfältig restauriert. Sie spiegeln zwar nicht den Zustand wider, den Gray erdacht hatte, gehören aber eben auch zur Geschichte. Zu einer Geschichte, in der die Schöpfungen von Frauen immer wieder unter den Teppich gekehrt, übernommen oder schlicht ausgelöscht wurden. Im E.1027 hat man sich bemüht, das Haus ansonsten so nah an Grays Vorstellungen wie möglich zu erhalten. Man hat die Einrichtungsgegenstände mit den gleichen Materialien wie damals nachbauen lassen und sich an Plänen und Fotos orientiert, die sie selbst kurz vor ihrer endgültigen Abreise gemacht hatte.
Man kann sich das gleiche Schicksal auch für andere erhaltenswerte Häuser des 20. Jahrhunderts wünschen, die momentan vor sich hin rotten. Etwa das Kuppelhaus, das der italienische Regisseur Michelangelo Antonioni und seine Geliebte, die Schauspielerin Monica Vitti, Anfang der Siebzigerjahre nach Plänen von Dante Bini an die spektakulären Hänge der sardischen Steilküste bauen ließen. Wenn man sich seiner nicht bald annimmt, wird es von Wind, Witterung und Vandalismus zerstört. Im Fall von E.1027 ist noch mal alles gut gegangen. Welch Glück für die Nachwelt! Das Haus kann in den Sommermonaten besucht werden, ein Recherchezentrum und ein Stipendium für Architektinnen und Architekten ist in Planung. So besteht das Erbe Eileen Grays, einer der bedeutendsten Designerinnen der Moderne, weiterhin nicht nur aus atemberaubenden Möbelentwürfen, sondern auch aus diesem überaus besonderen Haus. Auch wenn es kitschig klingt, wurde so aus einem Haus, gebaut für die Liebe, ein Haus für die Liebe zur Architektur.
Eileen Grays „Maison en bord de mer“, das in den Sommermonaten zu besichtigen ist, liegt drei Kilometer östlich von Monaco und ist von Nizza aus mit dem Auto in rund 45 Minuten zu erreichen.
Adresse:
Esplanade de la gare SNCF de Cap-Martin Roquebrune
Avenue Le Corbusier
06190 Roquebrune Cap-Martin
Öffnungszeiten:
Öffnungszeiten des Hangars: 9:30 – 17:30 Uhr
Es gibt 4 Touren pro Tag, jeweils um 10 und 14 Uhr, die über das gesamte Gelände führen.
Die Villa ist während des Winters geschlossen und öffnet ab dem 1. April 2025 wieder für das Publikum.
Mehr Infos finden Sie auf der Website der „Monuments Nationaux“.
„E.1027 – Eileen Gray und das Haus am Meer“ (2024)
Regie: Beatrice Minger
Ebenfalls UNESCO-Weltkulturerbe ist Le Corbusiers kürzlich restauriertes „Cabanon“, das er in den Fünfzigerjahren oberhalb von E.1027 baute und mit eigenen Wandbildern ausstattete. Der Verein Cap Moderne organisiert Führungen durch die Häuser und Gärten.