Interview mit Jonathan Meese

„Das Ungewisse macht uns lebendig“

Geht es nach Jonathan Meese, wird 2023 ein Schicksalsjahr. In seinem Berliner Atelier spricht der Künstler über den Krieg und das Bauhaus, über Einsamkeit und Elon Musk – und natürlich über die Diktatur der Kunst

Von Felix von Boehm
28.12.2022

Können wir unserer Einsamkeit in der Kunst nicht auch ganz gut entkommen?

Ja, die Kunst als ein Ort, zu dem ich dazugehören kann. Zumindest wenn ich mit Kunst und Künstlern leben will. Oder wenn ich mein Leben als Künstler der Kunst vollständig verschreibe, ins Atelier gehe und mir den Arsch abarbeite. Wie es Richard Wagner sagte: Du musst das tun, was für das Gesamtkunstwerk notwendig ist, deine Rolle annehmen, die Dir die Kunst abverlangt. Ein Busfahrer, der mit Liebe seinen Bus fährt, kann auch ein Künstler sein. Wenn du aber das, was du tust, mit Zynismus machst oder lieblos, dann kannst Du es auch bleiben lassen.

Und wenn sich daran jeder halten würde, kämen wir Deiner Idee vom Gesamtkunstwerk näher?

Ja! Dem Gesamtkunstwerk Deutschland, dem Gesamtkunstwerk Europa, dem Gesamtkunstwerk der ganzen Welt. Die ganze Welt wäre so, dass jeder Haushalt, jeder Zusammenhang, dass alle Menschen, das, was sie tun, im Namen der Kunst tun und nicht im Namen von etwas anderem. Nicht im Namen eines Machthabers, nicht im Namen einer Ideologie, nicht im Namen einer Religion, nicht im Namen von Politik und nicht im Namen von Zynismus. Aber das zuzulassen, scheint gerade schwierig. Die Leute wollen sich immer gegenseitig in Formen pressen. 1923 waren diese Formen immerhin noch größer. Heute sind sie so furchtbar klein, so spitzfindig, so dämlich geworden. Und diese Kleingeistigkeit drängt uns weg von der Kunst.

Ist Elon Musk für Dich ein Künstler?

Er könnte Künstler sein. Er war vielleicht auf dem Weg dahin, aus Amerika ein Gesamtkunstwerk zu machen – mit selbst fahrenden Autos, Satelliten und Raketen. Da hat er schon allen Widerständen zum Trotz sehr viel auf die Beine gestellt. Aber er ist gerade auf dem Weg dazu, Politiker zu werden und dann ist es vorbei. In dem Moment, wo er versucht reale Macht zu sammeln, wird es langweilig. Das kann kein Mensch überleben.

Wie können wir das Jahr 2023 überleben?

Jonathan Meese
Jonathan Meese in seinem Berliner Atelier. © Jana Edisonga

Wenn Du mich fragst: Nur in der Kunst! Sie wird vor dem Hintergrund der immer härteren Fronten zwischen den aufeinanderprallenden Ideologien jeden Tag wichtiger. Die Kunst ist der einzige Ort, wo noch die innere Stimme zählt. Es ist der einzige Ort weltweit, wo überhaupt noch eine innere Stimme zugelassen ist. In keinem religiösen Zusammenhang, in keinem politischen Zusammenhang, bei keiner Demonstration gibt es noch die innere Stimme. Die wurde getötet. In der Kunst gibt es sie noch ganz vereinzelt. Um sie zu hören, muss man seinen Kopf freihalten und ohne Zensur sein! Das kann man, indem man viel schläft, in dem man viel zu Hause ist, viel liest, die Sachen mit sich selbst diskutiert, Selbstgespräche führt. Wenn du diese Objektivität nicht übst, dann bist du ein Gefangener der Realität. Lasse dich von nichts repräsentieren, nicht mal von deinen Eltern, auch nicht von deinen Liebsten. Du musst dein eigenes Leben leben. Was auch immer es ist, was auch immer dir geschenkt wurde von der Natur, du hast das Recht, die Verpflichtung dein Leben zu leben. Und du kannst dein Leben nicht von anderen leben lassen oder vorleben lassen.

Ist Objektivität die Voraussetzung für künstlerische Schöpfung?

Unbedingt. Maximale Objektivität, um der Objektivität der Kunst dienlich zu sein. Denn so ich-bezogen die Künstler auch sind, die Kunst selbst ist wirklich objektiv, also total sachlich! Kunst ist nun mal das, was überlebt: Die Pyramiden haben überlebt, nicht der Pharao. Nicht Leonardo da Vinci hat überlebt, sondern seine Bilder. Und das ist doch genau, was die Kunst uns geben kann: Apokalyptische Bücher und apokalyptische Bilder – ohne reale Apokalypse und reale Apokalyptiker! Die Kunst kann Esoterik verarbeiten bis zum geht nicht mehr. Aber sie ist deswegen noch lange nicht selbst esoterisch.

Wie sähe eine Welt aus, in der die Kunst die Macht übernommen hat?

Wenn die Kunst endlich die Macht übernimmt, dann gibt es das, was bisher an der Macht war, nicht mehr. Das, was vorher so viele Opfer und so viel Leid erzeugt hat, wäre nicht mehr da. Es wäre ein Experiment, das wir endlich einmal durchführen sollten. Richard Wagner oder Ludwig II. von Bayern haben es ja schon so gut sie konnten getan. Aber wenn du mich jetzt fragst, wie sieht das aus? Dann kann man nur sagen, das wäre ein echter Neustart. Ein totaler Nullpunkt, an dem wir uns gegenseitig überraschen würden, mit völlig neuen Erkenntnissen. Wir würden das, was wir tun, einfach nicht mehr im Namen von Politik, einer Partei oder Religion oder eines Gottes machen, sondern im Namen der Kunst. Wir sind so uninspiriert, wenn wir die Frage danach stellen, wie das gehen würde mit der Diktatur der Kunst. Kommen lassen, mit Hingabe und ohne Angst, das ist die Devise!

Wir haben so viele andere Diktaturen aus Feigheit zugelassen; für die Diktatur der Kunst bräuchten wir Mut. Die Kunst sagt dir zum Beispiel: Du kannst jede Identität annehmen, die du willst. Du kannst alles sein. Heute so, morgen so, übermorgen wieder anders. Aber das steht dann nicht in deinem Pass, sondern in deiner Seele, in deinem Hirn, in deinem Herzen. Aber die Leute wollen immer das Amtliche. Ja, warum denn? Das Amt wird uns nicht befreien! Jemand, der in der Realität ganz klein ist, kann auf der Bühne ganz groß sein. Und solche Kräfte muss man erkennen und an ihnen arbeiten. Nur dann kommen wir weiter.

Jonathan Meese
Jonathan Meese beim Vermessen der Zukunft. © Felix von Boehm

Du plädierst für eine Diktatur der Kunst?

Ja, aber es ist eine andere Diktatur. Wir haben einen sehr konservativen und negativen Diktaturbegriff. Wir müssen uns nur einmal vergegenwärtigen: Die Sonne ist auch ein Diktator. Mein Schlaf ist ein Diktator. Die Liebe ist ein Diktator. Das sind alles hermetische und feststehende Prinzipien, denen ich mich nicht entziehen und die ich mir auch nicht auswählen kann. Es ist nichts Demokratisches. Aber die Demokratie ist sowieso ein Auslaufmodell, wie wir weltweit sehen. Das muss man einfach akzeptieren und anerkennen und das ist nicht schlimm. Vielleicht kommt auch etwas Besseres. Wir dürfen die Türen nicht immer vor der Veränderung verschließen. Bei der Liebe akzeptieren wir das doch auch: Wenn ich mich auf eine Liebe einlasse, dann bin ich auch nicht in einem demokratischen Feld unterwegs, sondern es überkommt mich. Die Kunst muss auch über uns hereinbrechen dürfen. Die Freiheit der Kunst ist unantastbar und die steht über absolut allem. Wenn die Freiheit der Kunst eingeschränkt wird, geht alles den Bach runter und dann gibt es nur noch Horror. Die Kunst muss die höchste Macht werden – in jedem Staat. Kunst ist nun mal „versachlichte Führung“! Ich weiß auch nicht, ob wir das überleben können, was gerade ideologisch so Widerliches passiert, aber das wäre vielleicht auch gar nicht so schlimm. Vielleicht müssen wir irgendwann den Planeten verlassen. Es gab auch einmal Saurier.

Aber was bringt uns die Diktatur der Kunst, wenn wir sie gar nicht mehr erleben können?

Wir werden sie überleben, wenn wir uns von ihr überfallen lassen. Das Überfallkommando der Kunst nimmt uns mit auf die Reise in die Zukunft. Wir brauchen die Reise zum Mittelpunkt der Kunst. Das ist wie bei „Alice in Wonderland“: Wir müssen es zulassen. Wir müssen die Angst verlieren, dass das etwas Böses ist, wenn das Neue an die Tür klopft. Das Neue kann doch gar nicht so schlecht sein wie das Alte. Kunst ist ein Risiko. Dieses Überfallskommando der Kunst ist hinreißend. Sich von der Kunst erobern lassen bedeutet, sich von der Liebe erobern zu lassen. Kunst ist Liebe, Liebe ist Kunst, eine Diktatur der Liebe. Eine harte Liebe, eine starke Liebe, eine radikale Liebe. Es ist nicht diese verwässerte Liebe, die wir überall feiern. Nein, das ist die harte, klare Kante das, was wirklich geliebt wird und das muss man auch verteidigen.

Ein Plädoyer für weniger Gewissheiten?

Absolut. Das Ungewisse macht uns lebendig, Kunst ist die Reise ins Unbekannte, siehe Mr. Spock! Das „Ungewisse aushalten“ ist sehr, sehr wichtig. Es lohnt sich auf Dauer.

Zur Startseite