In seiner Kolumne „Was mich berührt“ stellt der Bestseller-Autor Daniel Schreiber Künstlerinnen und Künstler vor, die ihn besonders bewegen. Folge 5: Giovanni Battista Tiepolo in Venedig
ShareVenedig ist voll von Tiepolos, und es ist eine große Freude, durch den Nebel zu stapfen, ein Vaporetto zu nehmen und die vielen Kirchen anzusteuern, deren Decken und Seitenaltäre Fresken und Bilder von ihm versammeln. Neben der Kunstbiennale ist das vielleicht der beste touristische Zeitvertreib, den man sich hier vorstellen kann. Auch im Kapitelsaal der Scuola Grande dei Carmini sind Tiepolos zu sehen, und im Ca’ Rezzonico, dem hiesigen Museum des 18. Jahrhunderts, das gerade leider renoviert wird. Zum Palazzo Labia, der dem italienischen Staatsfernsehen gehört, und zum Palazzo Pisani Moretta, der sich in Privatbesitz befindet, verschafft mir eine freundliche venezianische Bekannte Zugang. Die Fresken dort haben weltlichere Themen – die Geschichte von Cleopatra und Marcus Antonius und das amouröse Aufeinandertreffen von Mars und Venus –, zeichnen sich aber durch die gleiche luftige und verspielte malerische Sprache aus. Auch sie sind wunderschön.
Eines meiner Lieblingswerke stellte Tiepolo für die Decke der venezianischen Chiesa delle Cappuccine fertig, heute ist es in den Gallerie dell’Accademia zu sehen. Es ist kreisrund, auf Leinwand gemalt, hat einen Durchmesser von fast fünf Metern und sprengt seinen goldenen Rahmen auf ähnliche Weise wie Tiepolos Fresken. „Die Kreuzauffindung der hl. Helena“ von 1745 handelt davon, wie Helena, die Mutter von Kaiser Konstantin, auf einer Pilgerreise nach Jerusalem Ausgrabungen anweist und so auf das Kreuz stößt, an dem Jesus starb. Umgeben von Engeln und einer Schar von Schaulustigen begegnet man ihr im Moment ihres Triumphs. Der Bildaufbau wird vom gigantischen Kreuz bestimmt, das bis in die Wolken reicht. Links unten befindet sich eines der anderen Kreuze, die in dem ausgehobenen Grab ebenfalls gefunden wurden. Rechts unten der Tote, der von der Berührung mit dem echten Kreuz wieder zum Leben erweckt wurde und so dessen Authentizität bezeugt.
In seinem asymmetrischen Bildaufbau ähnelt die „Kreuzauffindung“ dem Hauptteil des Rosenkranz-Freskos, aber in vielerlei Hinsicht ist es noch ein wenig witziger – es anzuschauen ist ein durch und durch zwangloses Vergnügen. Das Gemälde tut nicht einmal so, als ob man es mit einem Blick erfassen könnte, und gibt auch keine Anweisung, von welchem Ort aus man es betrachten soll. Tiepolo reizt die Darstellung der Szene bis zur Zerreißgrenze aus. Die Figuren scheinen alle zugleich zu agieren, ohne groß miteinander zu kommunizieren oder sich auch nur anzuschauen. Ihre Kleidung und die Gegenstände, mit denen sie ihre Identität ausweisen, sind fast genauso wichtig wie sie. Auch ihre Hierarchie untereinander ist von weniger Belang, als man meinen möchte. Tiepolo scheint sich für die Engelchen mindestens genauso stark zu interessieren wie für Helena. Trotzdem stellt das Bild eine meisterhafte Regieleistung dar. Allein um zu sehen, wie die Putti aus den Wolken purzeln, sollte man dem Museum einen Besuch abstatten. Offensichtlich wohnen sie dort, in den Wolken, und kreisen um deren Gravitationsfeld. Sie lassen sich fallen und sausen durch die Luft, weil sie Spaß daran haben und sich die Zeit mit all dem vertreiben, was man selbst auch machen würde, wenn man Flügel hätte. Dann fliegt ein großer, ernster Engel herbei, um über der Szene ein Weihrauchfass zu schwingen – warum nicht, natürlich braucht großes klerikales Theater auch Weihrauch. Die leuchtenden, fulminanten Kleider der heiligen Helena bauschen sich im Wind, als stünde sie vor den Windmaschinen eines Fotoshootings. Die Szene ist in ein einzigartiges Licht getaucht. Das Bild stellt eine der wenigen Gelegenheiten dar, von Nahem zu betrachten, mit welcher Sicherheit Tiepolo reine Farben einsetzte, um sie mit matten Pigmenten zu kontrastieren. Jedes Detail des Bildes ist mit allergrößter Fantasie inszeniert. Man könnte Stunden auf dem Sofa verbringen, das vor der gigantischen Leinwand steht, ohne das Gefühl zu bekommen, alles darauf gesehen zu haben.
Es ist der Kunsthistorikerin Svetlana Alpers und ihrem Kollegen Michael Baxandall zu verdanken, Tiepolo von seinem verstaubten Ruf befreit zu haben. In ihrem Buch „Tiepolo und die Intelligenz der Malerei“ unterstreichen sie die Modernität des Malers und stellen unter anderem heraus, wie er die assoziativen Fähigkeiten seiner Betrachtenden herausfordert und sie zu Mitagierenden seiner Kunst macht. Dadurch, dass sich Tiepolo von vielen der klassischen Darstellungsmuster und Bildschöpfungsstrategien seiner Zeit verabschiedete, so Alpers und Baxandall, schenkte er auch den Betrachtenden seiner Bilder eine völlig ungeahnte Freiheit.
Die leuchtende Idolatrie seiner Werke, ihre Lust an den unendlichen Möglichkeiten der Malerei, ihr offen asymmetrischer Bildaufbau, ihr übersinnliches Spiel mit dem Licht, ihre leichtfüßige Exaltation, die fliehenden Gewänder und wallenden Wolken – all das steht im großen Gegensatz zum heiligen Ernst anderer religiöser Fresken. Tiepolo, so der Essayist Roberto Calasso, verkörpert das, was man in Italien sprezzatura nennt: eine Mühelosigkeit, eine gewisse Nonchalance, die darüber hinwegtäuscht, wie viel Arbeit und Anstrengung in einer Tätigkeit steckt. Vielleicht liegt darin auch die Erklärung, warum die Kunstgeschichte Tiepolo so lange als rein dekorativen Maler abtat. Keines seiner Werke sagt: Ich bin ein wichtiges, wirklich ernstes Bild – legt eure Stirn in Falten und seid andächtig! Tiepolos Arbeiten sagen allerhöchstens, hey, schaut mich an, wenn euch danach ist. Wenn ihr nicht viel nachdenken wollt, könnt ihr einfach genießen, wie schön ich bin. Und solltet ihr zu mehr bereit seid, lasst euch auf den Rausch meiner Visionen ein.
Auf den winterlichen Spaziergängen im nebeligen Venedig, von Sestiere zu Sestiere, Kanal zu Kanal, Kirche zu Kirche und Palazzo zu Palazzo, frage ich mich auch, ob mich nicht reiner Eskapismus dazu bringt, den Tiepolos der Stadt nachzuspüren. Vielleicht. Ein Eskapismus wie jene Freude, die mich beim Anblick jeden der strahlend gelb blühenden Mimosenbäume überkommt, die hier über die Stadt verstreut sind. Es ist eine so seltsame, schwere Zeit, in der wir leben, trotzdem rückt der Frühling Tag für Tag ein wenig näher. Vielleicht gibt mir schon allein die Aktivität, diese Werke aufzuspüren, an sich etwas Halt, schenkt mir ein Gerüst für die Tage, die ich hier verbringe. Aber vielleicht, vielleicht ziehen mich die Fresken Tiepolos auch aufgrund ihrer unglaublichen Freiheit an. Aufgrund der imaginativen und intellektuellen Freiheit, die sie den Betrachtenden schenken. Aufgrund der Entspannung, die damit einhergeht. Wenn man sich Tiepolos anschaut, scheint man immer ein bisschen verloren zu gehen, und gibt man sich diesem Gefühl hin, kommt es zu Momenten großer innerer Ruhe. Manchmal entsteht sogar eine rätselhafte Form von Spiritualität. Etwas jedenfalls, das mir in Zeiten eines anhaltenden Krieges nähergeht als gedacht. Vielleicht ziehen mich Tiepolos Arbeiten deshalb so an: Wenn man sie lange genug anschaut, können sie einem Freiheit schenken, sich eine andere Welt vorzustellen.