Was mich berührt

Kosmische Formen

In seiner Kolumne „Was mich berührt“ stellt der Bestseller-Autor Daniel Schreiber Künstlerinnen und Künstler vor, die sein Leben begleiten. Folge 7: die Bildhauerin Barbara Hepworth

Von Daniel Schreiber
28.04.2023

Die Skulptur aus der Mitte der Fünfzigerjahre, benannt nach dem griechischen Ort, an dem Barbara Hepworth Ferien machte, als sie die Arbeit daran begann, zeigte eine außergewöhnliche Bildhauerin auf dem Zenit ihres Schaffens. Ein Freund aus Westafrika hatte ihr 17 Tonnen Guarea-Holzes zukommen lassen, ein Material, aus dem viele der afrikanischen Skulpturen, die Hepworth so bewunderte, gemacht waren. Nach einigen Schicksalsschlägen – den Schrecken des Zweiten Weltkriegs, dem Tod ihres ältesten Sohns bei einem Flugzeugabsturz und dem Ende ihrer zweiten Ehe zu ihrer großen Liebe Ben Nicholson – fand die 51-Jährige bei der Arbeit an der nach diesem Holz benannten Serie zu einer Zufriedenheit, die sie nicht mehr für möglich gehalten hatte. Plastiken wie die aus dem „Guarea“-Zyklus hatte man noch nie gesehen. Es sind Plastiken, die einen ruhigen, ureigenen Platz in der Welt beanspruchten. Plastiken, die eine Geschichte von der Akzeptanz der Schrecken der Zeit erzählten.

Barbara Hepworth Dudley Shaw Ashton Figures in a Landscape
Barbara Hepworth in Dudley Shaw Ashtons Film „Figures in a Landscape“ aus dem Jahr 1953. © Courtesy of the BFI National Archive

Beim Gang durch die Tate-Ausstellung wurde schmerzlich deutlich, dass man Hepworth lange schlicht aus dem Kanon der Nachkriegskunst ausgeschlossen hatte, weil sie eine Frau war. Und ich wusste nicht, wie ich mit dem Gefühl der Ungerechtigkeit umgehen konnte, das dieses Wissen in mir auslöste. Ein Großteil des plastischen Abstraktionsvokabulars, das wir heute mit der Nachkriegsmoderne assoziieren, wurde von ihr geformt. Dennoch wurde Hepworth schon zu Lebzeiten nachhaltig auf eine Frauenrolle festgelegt, der per definitionem etwas Regionales und Amateurhaftes anhaftete. Dieses Image konnte ihr Werk erst in der neueren Rezeption und durch ihren jüngeren, posthumen Auktionssiegeszug abstreifen – erst im vergangenen Jahr erzielte ihre Bronze „Elegy III“  aus der Sammlung Paul Allen bei Christie’s in New York 8,6 Millionen US-Dollar.

Es war absurd, Hepworth war so offensichtlich nie nur regional verankert oder gar so etwas wie eine Amateurin gewesen. Mit Braques, Mondrian, Brancusi und Picasso befreundet, war ihr Fokus schon in den Dreißigerjahren international ausgerichtet. Die Kunstzeitschriften der europäischen Zwischenkriegszeit, Abstraction-Création oder Circle, berichteten begeistert über ihre Arbeit. Und technisch war sie den meisten ihrer Zeitgenossen überlegen, egal ob sie mit Bronze, burmesischen Hölzern oder Pavonazzetto-Marmor arbeitete. Ihre Skulpturen zeugen von einer langen Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Material und einem rastlosen Perfektionsdrang. Sie hatte ihre Arbeit an den Hohlräumen der Plastik nicht nur ein Jahr vor ihrem Freund Henry Moore aufgenommen, in dessen Schatten sie bis heute steht. Sie hatte diese Arbeit auch so zu Ende gedacht, wie es Moore nie möglich war. Dennoch wird dieser kunsthistorische Beitrag bis heute ihrem Kollegen zugeschrieben zugeschrieben. Selbst Hepworths schwächere Arbeiten konnten es mit denen von Zeitgenossen wie William Turnbull, Naum Gabo oder Hans Arp aufnehmen. Und in ihren stärksten Momenten fand sie zu einer Formensprache, die die Nachkriegsabstraktion geradezu transzendiert. Eine Formensprache, die immer noch singulär ist.

Barbara Hepworth Marble with Colour Crete
„Marble with Colour (Crete)“ (1964) stammt aus der Sammlung des Museum Boijmans Van Beuningen in Rottderdam und ist aktuell im Duisburger Lehmbruck Museum zu sehen. © Bowness

Hepworths Londoner Retrospektive berührte mich auch deshalb so, weil sie eine doppelte Emanzipationsgeschichte erzählte – von der bildhauerischen Form und von den Männern in ihrem Leben, von den gesellschaftlichen Ansprüchen an ihre Arbeit und jenen an ihr Privatleben. Eine doppelte Emanzipationsgeschichte, mit der ich mich zu diesem Zeitpunkt mehr identifizieren konnte, als mir lieb war. Konnte ihr erster Ehemann John Skeaping, ein vergleichsweise mediokrer Bildhauer, noch allen Ernstes behaupten, er habe ihr das direct carving beigebracht, war ihre zweite Ehe mit dem Künstler Ben Nicholson weitaus erfüllter. Ihre wichtigste künstlerische Entwicklung machte Hepworth allerdings erst, als sie nach der Trennung von Nicholson allein lebte. Erst danach wagte sie den Sprung in eine Abstraktion, in der die Ahnung von Körpern, Biologie und Natur mitschwang. Viele von Hepworths späteren Skulpturen scheinen ein eigenes, unerklärliches Innenleben zu führen. Sie wirken wie atmosphärisch aufgeladene Objekte mit jeweils eigenen Umlaufbahnen psychischer Spannung. Es sind Objekte, die von menschlichen Formen berichten, von Kindheits- und Sehnsuchtslandschaften. Objekte, die wie keltische Steinzirkel in einer Beziehung zum größeren Kosmos stehen.

In jenen schwierigen Londoner Monaten schienen es genau die Botschaften dieser Arbeiten zu sein, die ich hören musste. Die von ihnen vermittelte ästhetische Harmonieerfahrung, ihre dem Leben so hart abgewonnene Ausgeglichenheit, ihr mit solcher Sorgfalt austariertes Gleichgewicht – all das schien unmittelbar zu mir zu sprechen. Hepworths Arbeiten erzählten von einer unvergleichlichen, befriedenden Freiheit im Denken und Handeln. Ihre Rhythmen und Gesten, ihre inneren und äußeren Bewegungen glichen in gewisser Hinsicht dem, was ich in bestimmten Momenten auch während des Laufens und der Spaziergänge am Fluss, am Kanal und im Victoria Park empfand. Mit einer sanften Stimme schienen sie zu sagen: Es wird, vertrau uns, du bist genau dort, wo du sein musst. Wir alle lösen uns von Zeit zu Zeit auf, das ist ein unentrinnbarer Umstand des Lebens. Doch danach setzen wir uns wieder neu zusammen. Oft passender, besser und schöner als zuvor.

Service

Ausstellung

„Die Befreiung der Form. Barbara Hepworth – Meisterin der Abstraktion im Spiegel der Moderne“,

bis 20. August,

Lehmbruck Museum, Duisburg

lehmbruckmuseum.de

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