Was mich berührt

Die Tage am Strand

Niemand fing den Schaum der Wellen, die Wärme der Sonne und das Funkeln des Meeres so ein wie Joaquín Sorolla. Folge 8 seiner Kolumne „Was mich berührt“ widmet Daniel Schreiber dem spanischen Maler und seinem überschwänglichen Licht

Von Daniel Schreiber
26.05.2023

Seine Ausstellungen in Paris und London und später auch New York, Boston, Chicago und St. Louis waren vielbeachtete Medienereignisse, er wurde von Kunstsammelnden in der ganzen Welt unterstützt. Sorolla hatte es malend geschafft, in eine andere soziale Schicht aufzusteigen. Der Glamour seiner sozialrealistischen Bilder changierte irgendwo zwischen Nostalgiegefühlen und Abgrenzungsversuchen. Vielleicht erklärte das auch seine distanzierte Haltung zur Avantgarde. Die bürgerliche Welt, gegen die die Avantgarde rebellierte, hatte ihm seine Lebensgrundlage geschenkt. Warum sollte er, der sich mit seiner Familie in einem fürstlichen Haus in Madrid niederließ und seine Sommer am Meer verbrachte, das infrage stellen.

Je länger ich durch die Ausstellung ging, desto stärker faszinierte mich Sorolla. Saal für Saal ließen sich Entdeckungen machen. Ein ganzer Raum war intimen, flüchtigen Gouachen gewidmet, die er während seiner langen Reisen durch Amerika auf das feste Papier malte, das die Hotelwäschereien gestärkten Hemden beilegten, damit diese ihre Form bewahrten.

Joaquín Sorollas Enganchando la barca
Joaquín Sorollas „Enganchando la barca“, entstanden im Jahr 1899 in Valencia. © Fundacion Museo Sorolla

Atmosphärische, aus dem Fenster hoher Stockwerke beobachtete Tag- und Nachtszenen von der Fifth Avenue waren darunter, vom Central Park und vom Grand Army Plaza. So genau traf der Maler das Licht, die Farben und Stimmungen dieser Orte, dass man sie auch noch hundert Jahre später wiedererkennen konnte. Liebevolle Familienporträts wechselten sich mit glänzenden Auftragsarbeiten ab, die die Reichen und Mächtigen der Welt zeigten, unter ihnen die Magnatin Frances Tracy Morgan oder der Schmuck- und Glaskunstunternehmer Louis Comfort Tiffany. Tiffany war da in einem schneeweißen Anzug in seinem Garten auf Long Island zu sehen, vor einer Staffelei und mit einem emphatisch ausufernden, gelb-weiß-blauen Blütenmeer im Hintergrund, das so strahlte wie seine berühmten Lampen und Glasfenster.

Einigen Werken der Ausstellung gelang es, sogar diese Sinnlichkeit noch zu übertrumpfen. Sorolla, ein unglaublich produktiver Maler, schuf um die 4200 Gemälde und unzählige Gouachen und Zeichnungen. Doch zu seinem bleibenden Vermächtnis sollten seine Strandszenen werden, die auf eine fast magische Weise den Luminismus des Mittelmeers inszenierten.

Joaquín Sorolla Paseo a orillas del mar
„Paseo a orillas del mar“ von 1909 zeigt Joaquín Sorollas Tochter Maria und seine Frau Clotilde in aufsehenerregend weißen Kleidern am Strand von Valencia. © Fundacion Museo Sorolla

In „Paseo a orillas del mar“ von 1909, wahrscheinlich Sorollas bekanntestem Gemälde, spazierten seine Tochter Maria und seine Frau Clotilde in aufsehenerregend weißen Kleidern den Strand von Valencia entlang, den ausladendenden weißen Hut auf dem Kopf festhaltend, einen aufgeplusterten weißen Sonnenschirm in der Hand, mit wehenden weißen Schleiern im salzigen Wind. Es ist ein Gemälde, das einen förmlich zu blenden scheint, ein Bild von einer absurden Schönheit, dessen Wirkung sich auf keinem Foto reproduzieren lässt. In anderen Strandszenen schwammen Jugendliche zu im tiefen Wasser liegenden Booten. Kleine Kinder spielten ausgelassen am Strand. Familien in Sonntagskleidung saßen im Schatten großer Sonnenschirme im Sand. Der Schaum der Wellen, die Reflektionen des Wassers, die eigenartige Transparenz der Seeluft – alles war hier in schnellen, fast schon zeichenartigen Pinselstrichen festgehalten. Und über allem lag das urgewaltige Licht des östlichen Spaniens, gebrochen, gespiegelt und verstärkt von den Wellen des Meeres.

Der Naturalismus dieser Bilder schien sich seine Sprache bei den französischen Impressionisten geliehen zu haben. Reinstes Weiß stand ungemischt neben Blau-, Grün- und Violetttönen. Selbst die Schatten, lila, purpurn, braun, schienen keine Dunkelheit zu kennen. Es existieren einige Fotos von Sorolla, wie er vor einer Leinwand am Strand steht und malt.

Joaquín Sorolla
Joaquín Sorolla im Jahr 1916 am Strand von Cabañal, Valencia. © Fundacion Museo Sorolla

Es ist schlicht unvorstellbar, wie es diesem Mann, einem lebenslangen Verfechter der Plein-air-Malerei, in seinem dunklen Anzug und mit seinem steifen Hut gelang, diese Bilder, diese atmenden Atmosphären und kristallinen Sehnsüchte zu schaffen. Das Licht in diesen Gemälden verwandelt alltägliche Szenen in singuläre Erinnerungsbilder, taucht sie ein strahlendes Schauspiel von Farbe und Glanz, das piktoriale Grenzen zu überschreiten scheint. Sorrollas Mittelmeerszenen sind eine überschwängliche, fast radikale Feier der Möglichkeiten der Malerei. Eine Feier der einzigartigen Erfahrung, am Leben zu sein.

Auch heute muss ich noch oft an diese Arbeiten denken. Immer dann etwa, wenn sich wie jetzt die ersten Sommertage am Horizont ankündigen, immer wenn ich eigentlich ans Meer möchte und nicht kann. Ich weiß auch heute noch, was in mir vorging, als ich durch jene Ausstellung ging, welche Stimmungen Sorollas Strandszenen in mir auslösten: Ich konnte förmlich spüren, wie matt und entspannt mein Körper nach einem langen Tag am Atlantik oder am Mittelmeer ist, wie sich meine Haut nach vielen Stunden in der Sonne anfühlt, wie die salzige Luft den Griff meines Haars verändert. Wie anders die Zeit am Meer zu verlaufen scheint und wie ich mir wünsche, dass sie niemals enden wird. Als ich die Ausstellung verließ, hatte ich das Gefühl, zwei Stunden lang dem Rauschen am Strand brechender Wellen zugehört zu haben. Was für eine einzigartige, was für eine grandiose Erfahrung.

Service

Ausstellungen

„Sorolla a través de la luz“,

bis 30. Juni,

Palacio Real, Madrid

patrimonionacional.es

„En el mar de Sorolla con Manuel Vincent“,

bis 17. September,

Museo Sorolla, Madrid

culturaydeporte.gob.es

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