Ernst Wilhelm Nay

Scheibchenweise nach oben

Lange interessierten sich Sammlerinnen und Sammler vor allem für die „Scheibenbilder“ von Ernst Wilhelm Nay. Das ändert sich nun – und Museen zeigen große Retrospektiven

Von Christiane Meixner
17.01.2022

Die Szene an sich ist unspektakulär. Zwei Fischerboote im unruhigen Meer werden von fünf Gestalten flankiert, die am Kai oder Strand stehen. Es hätte ein typisches Genrebild abgeben können, doch Ernst Wilhelm Nay hatte anderes vor. Seine Zeichnung wird zur Paraphrase eines Zustands, der ihn ab 1934 an der Ostsee schier überwältigt. Das Wasser, der Sand, die Gräser der Dünen: Alles ist fortwährend in Bewegung, und der Maler macht dies in einer Geste sichtbar, die das Gesehene mit einer schier endlosen, schwungvollen Linie zu Papier bringt.

Ein Sujet von grandioser Dynamik, die schwarze Tinte vollführt Schleifen und Wellen. Bloß die Masten der Boote stechen vertikal hervor – ähnlich wie die Strandfiguren mit ihren dreieckshaften Köpfen, die jeweils ein punktförmiges Auge tragen. Mit Blick auf Nays Werk sind in der Zeichnung „Fischer“ von 1936 so viele Themen präsent, die den Maler später noch beschäftigen, dass der Zuschlagspreis von 12 000 Euro vom vergangenen August völlig plausibel erscheint. Hier kündigen sich die „Lofoten“-Bilder an, seine berühmten „Augenbilder“ sind ebenso zu ahnen wie die „Fugalen Bilder“ vom Anfang der Fünfzigerjahre; vor allem aber manifestiert sich hier bereits das virtuose Changieren des Malers zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion.

Die Schätzung für „Fischer“ belief sich auf gut 5000 Euro, während der Ahrenshooper Kunstauktion verdoppelte das Blatt dann nahezu seinen Wert. Acht Wochen zuvor erzielte, wenn auch auf anderem Niveau, das Münchner Auktionshaus Ketterer mit dem Gemälde „Doppelspindel-Rot“ (1967) einen Hochpreis für Ernst Wilhelm Nay. Das monumentale Format aus der Sammlung der Deutschen Bank, die es einst direkt beim Künstler erwarb, war auf 200 000 Euro taxiert. Am Ende der Versteigerung standen 1,8 Millionen, mit Aufgeld 2,25 Millionen Euro. Robert Ketterer dürfte klar gewesen sein, dass hier das Potenzial für einen neuen Rekord schlummerte: Im Dezember 2017 hatte der Auktionator mit „Scheiben und Halbscheiben“ schon ein anderes kapitales Nay-Werk von 1955 im Angebot. Auch hier lag die Schätzung bei 250 000 Euro, der Zuschlag erfolgte an einen Schweizer Sammler erst bei 1,85 Millionen. Mit Aufgeld summierte sich der Preis gar auf knapp 2,3 Millionen Euro.

Für den Künstler war das Entstehungsjahr von „Scheiben und Halbscheiben“ in vielerlei Hinsicht elementar. Damals erschien seine Theorie zum farbräumlichen Bildaufbau als Ergebnis einer Gastdozentur an der Landeskunstschule Hamburg. Sein Buch „Vom Gestaltwert der Farbe“ zeigt, wie ernst Nay diese kurze Lehrtätigkeit nahm und wie präzise er überhaupt sein malerisches Tun reflektierte. 1955 nahm er zudem an der ersten Documenta in Kassel teil, stellte in der New Yorker Galerie Kleemann aus und hatte Retrospektiven im Hamburger Kunstverein wie in der Kestnergesellschaft in Hannover – mitten in der Phase seiner „Scheibenbilder“, die ein Jahr später auch Nays Auftritt im Deutschen Pavillon der Biennale von Venedig prägten. Entsprechend avancierten die sphärischen Kompositionen mit ihren entweder harmonisch oder kontrastreich leuchtenden Kreismotiven zu seinem populärsten Motiv, obgleich das Werk deutlich vielseitiger ausfällt. Nay arbeitete streng seriell, reizte das jeweilige Thema für sich aus und destillierte aus den gewonnenen Einsichten neue Fragen an die Malerei.

„Die höchsten Preise wurden lange für die sogenannten Scheibenbilder bewilligt“, bestätigt der Berliner Galerist Aurel Scheibler. Der Stiefsohn des Malers gab 1990 dessen Werkverzeichnis der Ölgemälde heraus, er ist Mitglied im Vorstand der Ernst Wilhelm Nay-Stiftung, die 2005 gegründet wurde und den künstlerischen Nachlass betreut, und kennt das Œuvre inwendig. Scheibler selbst gibt jenen Bildern den Vorzug, die kurz vor Nays Tod 1968 entstanden: „Die Bilder aus der späten Werkphase sind für uns heute sicher die nächsten und überraschendsten. Sie überzeugen durch eine große, klare Formensprache, die über die Leinwand hinausweist.“ Diese „Späten Bilder“ entstanden ab 1965. Nays divergierender Farbauftrag weicht fließenden, gleichmäßigen Oberflächen und einem klaren Formenrepertoire aus Ketten, Scheiben, Bögen, Bändern oder Spindeln wie bei dem 2021 von Ketterer offerierten Gemälde. Das eindrucksvolle Auktionsergebnis findet Scheibler absolut nachvollziehbar: „Es handelt sich um ein erstklassiges und für die späte Phase von Nay repräsentatives Werk. Solche Bilder sind rar auf dem Markt und waren bis vor ein paar Jahren nicht so hoch bewertet.“

Ernst Wilhelm Nay
Der Maler Ernst Wilhelm Nay in seinem Atelier. © akg-images / Florian Profitlich

Das ändere sich momentan. Nicht nur Aurel Scheibler beobachtet „eine überfällige Neubewertung, die sich auf alle Werkphasen von Nay bezieht“. Der hohe Zuschlag, der „Doppelspindel-Rot“ im vergangenen Jahr zum teuersten Los des Künstlers machte, wurde von einem Sammler aus der Schweiz bewilligt. Obwohl Nay in den schweizerischen Museen laut Scheibler nahezu „unsichtbar“ sei. Aber auch jenseits des Marktes findet ein Umdenken statt. Museen wie die Londoner Tate Modern oder das Musée National d’Art Moderne in Paris erwarben in jüngerer Zeit wichtige Gemälde, und die kommende Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle, die anschließend in Wiesbaden und im Museum Küppersmühle für Moderne Kunst zu sehen sein wird, richtet konsequent den Blick auf das Gesamtwerk statt auf einzelne Schaffensphasen.

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