„Die Form der Freiheit“

Strich durch jedes Wohlgefühl

Eine Ausstellung im Museum Barberini in Potsdam erkundet das Wechselspiel zwischen Abstraktem Expressionismus und informeller Malerei nach 1945 – und zeigt die gegenstandslose Kunst in neuem Licht

Von Daniel Schreiber
03.06.2022
/ Erschienen in WELTKUNST Sonderveröffentlichung

Eigentlich ein so schönes Blau, ein Blau, wie man sich das Meer vorstellt, das nur nie so aussieht. Ein Ultramarin, tief, komplex und bewegt. Man geriete fast ins Schwärmen, wären da nicht die ruhelose Grattage und die Fingerspuren, die zum Angriff auf den malerischen Raum blasen, die blutroten Schlieren, die buchstäblich einen Strich durch jedes oberflächliche Wohlgefühl machen, und das brachial pulsierende Schwarz, von dem man irgendwann den Blick nicht wenden kann. Ein Absturz in eine düstere Welt ausradierter Sicherheit. Ein Wegbruch des Lebens. Und dennoch Hoffnung und dieses eigentlich so schöne Blau.

Champigny Wols
Die Komposition „Champigny“, um 1951, von Wols. Die Arbeit stammt aus dem MKM Museum Küppersmühle für Moderne Kunst in Duisburg, das die Sammlung Ströher beherbergt. © Wols (Alfred Otto Wolfgang Schulze), Mischtechnik auf Leinwand, 72 × 59 cm, MKM Museum Küppersmühle für Moderne Kunst, Duisburg, Sammlung Ströher

Die „Komposition Champigny“ von Alfred Otto Wolfgang Schulze, genannt Wols, entstand 1951. Doch schaut man sie sich in der neuen Schau im Potsdamer Museum Barberini heute an, überkommt einen das Gefühl, dass sie zeitgemäßer kaum sein könnte. Wie lebt man, nachdem die Welt sich fast zerstört hatte? Wie macht man weiter, wenn man das Vertrauen in die Menschheit verloren hat? Was lässt sich fühlen, wenn die Lava unvorstellbarer Traumata unablässig in den Alltag quillt? Wie malt man am Nullpunkt der Geschichte? Vielleicht haben wir heute angesichts der erschütternden Weltlage wieder eine Ahnung davon, wie es wirklich war, damals, als der Zweite Weltkrieg „wie ein schwerer Leichnam in unseren Armen“ lastete, wie Simone de Beauvoir einmal schrieb. Und dennoch Hoffnung und dieses eigentlich so schöne Blau.

Als das Barberini und sein Kurator Daniel Zamani 2018 mit der Konzeption der Ausstellung „Die Form der Freiheit. Internationale Abstraktion nach 1945“ begannen, ließ sich noch nicht ahnen, wie aktuell sie sich heute anfühlen würde. Vielleicht hatte die oft als bedeutungsleer und zombiehaft verschriene Wiederkehr der Abstraktion in der zeitgenössischen Kunst den Anstoß gegeben, sich auf eine Zeit zurückzubesinnen, als das Abstrakte keine Mode, sondern Lebensnotwendigkeit war. Als es eine Antwort auf die Frage darstellte, wie man nach einer unvorstellbaren Selbstzerstörungsorgie überhaupt noch Kunst schaffen konnte. Vielleicht war es das Bedürfnis, die festgefahrenen kunsthistorischen Diskurse über den Abstrakten Expressionismus der New York School und das europäische Informel um die École de Paris aufzubrechen. Vielleicht war es an der Zeit, noch einmal mit Nachdruck den Geniekult um männliche Malerheroen wie Jackson Pollock zurechtzurücken – und so erstrangigen Künstlerinnen wie Mary Abbott, Janice Biala, Helen Frankenthaler, Lee Krasner, Joan Mitchell, Judit Reigl, Janet Sobel oder Hedda Sterne ihren verdienten Platz zu geben. All das gelingt dieser Ausstellung – und noch viel mehr.

Denn ihr größter Verdienst liegt vielleicht darin, dass sie erfahrbar macht, wie radikal der Schritt war, den die Malerinnen und Maler der Abstraktion der Nachkriegszeit machten, und wie nachhaltig sie dabei versuchten, sich den existentiellen Fragen ihrer Zeit zu stellen. Der Krieg hatte mit seiner Auslöschung von Lebenswelten auch für den Wegfall malerischer Gewissheiten gesorgt. Mit Anleihen an surrealistische Ideen des Irrationalen und Unbewussten, mit einem neuen Blick auf das Erbe des Kubismus, der impressionistischen Landschaft und der mexikanischen Muralisten und in Widerstand gegen die Dogmen geometrischer Abstraktion wagte man auf beiden Seiten des Atlantiks einen nie dagewesenen Neuanfang. Ob in Action-Painting, Farbfeldmalerei oder lyrischer Abstraktion: Nach dem Ende der Zivilisation sollte es um den Ausdruck von Individualität und Gefühl gehen. Um eine spontane prozess-orientierte Begegnung mit der Leinwand, wie es der amerikanische Kritiker Harold Rosenberg einmal formulierte. Eine schöpferische Begegnung, die dem Denken und dem Sprechen vorausgeht und die von künstlerischer Freiheit und Selbstbehauptung charakterisiert ist – eine Begegnung völlig frei von Ideologien, frei von dem, was die Welt an den Rand der Zerstörung gebracht hatte.

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