Eine Ausstellung im Museum Barberini in Potsdam erkundet das Wechselspiel zwischen Abstraktem Expressionismus und informeller Malerei nach 1945 – und zeigt die gegenstandslose Kunst in neuem Licht
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03.06.2022
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WELTKUNST Sonderveröffentlichung
Wie die 97 Werke der Ausstellung zeigen, konnte diese Begegnung alle möglichen Formen annehmen. Die Drip-Paintings von Janet Sobel, Lee Krasner, Jackson Pollock und Bernard Schultze lassen mit ihrer Allover-Ästhetik alle traditionellen Ideen vom Bildaufbau hinter sich und inszenieren die materielle Präsenz von Farbe völlig neu. Die Soak-Stain-Technik von Helen Frankenthaler oder Morris Louis, bei der die Leinwand mit verdünnter Reinfarbe durchtränkt wird, gibt nicht nur dem Zufall gekonnt einen Raum, sondern hebt auch jede Unterscheidung von Bildgrund und Malschicht auf. Die gestischen Abstraktionen von Franz Kline, Fritz Winter oder Georges Mathieu gehen mit einer unerhörten Körperlichkeit einher. Die großformatigen Farbfeld-Gemälde von Mark Rothko, Barnett Newman oder Ruprecht Geiger kreieren visuelle Kraftfelder und bündeln kontemplativ-spirituelle Energien. Wenn Clyfford Still, K.O. Götz oder Judit Reigl die Bildoberfläche mit Spachteln und anderen Werkzeugen strukturieren, öffnen sie den malerischen Raum für eine ungewöhnliche Dynamik. Die Kratzer, Kerben oder durch Feuer malträtierten Oberflächen in den Arbeiten von Wols, Otto Piene oder Antoni Tàpies rufen Assoziationen zu körperlichen Wunden hervor. Und die luftig-bewegten Arbeiten von Joan Mitchell, Sam Francis oder Norman Bluhm wirken wie verblüffende Dekonstruktionen Monetscher Landschaften. Auch wenn die Abstraktion jener Epoche häufig als eine „Universalsprache“ verstanden wurde, zeigt sich hier, dass ihre Ausdrucksweisen so vielseitig waren, dass man kaum von einer gemeinsamen visuellen Grammatik sprechen kann. Doch die Bildsprachen der einzelnen Künstlerinnen und Künstler vereint etwas Großes: Ein Individuum stellt sich hier in seiner Ganzheit der Leinwand und macht eine visuelle Bühne der Gefühle aus ihr.
Angesichts des weitläufigen Ausdrucks großer individueller Freiheit in diesen Werken erscheint es aus heutiger Sicht fast schon absurd, wie stark die Kunstrichtungen der Nachkriegsabstraktion weltanschaulichen und politischen Vereinnahmungen ausgesetzt waren. Während der Abstrakte Expressionismus von vielen zunächst in einer rein europäischen Tradition verortet wurde, sollte er später zum Symbol für den Sieg New Yorks als Kunsthauptstadt gegenüber dem Paris des alten Europas stilisiert werden. Viele westdeutsche Künstlerinnen und Künstler verstanden das Informel als Mittel für die Befreiung von einer politischen Vergangenheit, sogar für eine Tilgung der Zeit des Nationalsozialismus. Andere betrachteten die Strömung als einen Schutzwall gegen die sozialistisch-realistische Kunst aus dem Osten des Landes. In Frankreich und später auch in Amerika wurden beide malerischen Bewegungen als Ausdruck der Philosophie des Existentialismus von Jean-Paul Sartre, Albert Camus und Simone de Beauvoir interpretiert. Manche Kritikerinnen und Kritiker behaupteten, die Nachkriegsabstraktion werde von der Rückkehr zu einem wie auch immer gearteten „Urzustand“ getragen, andere sahen in ihr das Produkt einer rein „akademischen“ Malerei. Wieder andere konnten in ihr nichts als eine Begleiterscheinung der amerikanischen Konsumkultur und eine Propagandawaffe Kalter Krieger oder gar eine „barbarische“ Bedrohung der europäischen Zivilisation erkennen.
„Die Form der Freiheit“ macht deutlich, dass sich die Werke des Abstrakten Expressionismus und des Informel, wenn man genau hinschaute, schon immer gegen derartige Vereinnahmungen wehrten. Die meisten dieser Interpretationen werden aus heutiger Sicht durch nichts in diesen Bildern gerechtfertigt. Die Potsdamer Ausstellung stellt außerdem klar, wie viel die Strömungen miteinander verband und mit welcher Selbstverständlichkeit der durch den Krieg unterbrochene Austausch auf beiden Seiten des Atlantiks wieder aufgenommen wurde. Nicht nur durch zahlreiche Ausstellungen in Europa und Amerika, von der Venedig Biennale bis zu Überblicksschauen in New York oder Chicago, sondern auch auf dem Kunstmarkt, in den akademischen Diskursen und natürlich in den persönlichen Begegnungen zwischen den Künstlerinnen und Künstlern. Einige von ihnen, Joan Mitchell oder Sam Francis etwa, waren sogar sowohl in Paris als auch in den Vereinigten Staaten zuhause.
Doch bei all den verbindenden Elementen geraten auch immer wieder die Unterschiede in den Blick. Manchmal hat man das Gefühl, dass die Werke der europäischen Nachkriegsabstraktion schwerer wögen, dass sie von einer gewissen Dunkelheit bestimmt sind, manchmal sogar von Zwanghaftigkeit und Aggression. Vielleicht spürt man in einigen von ihnen das Trauma des Weltkriegs stärker, vielleicht konnte es so etwas wie Leichtigkeit häufig nicht geben, wenn man direkt von den Auswirkungen der Kriegshandlungen betroffen oder gar in sie involviert war. Von vielen der ausgestellten amerikanischen Arbeiten jener Zeit wird man sensorisch geradezu überwältigt. Viele der europäischen Werke scheinen einen in die Magengegend zu treffen – gerade heute, da Europa erneut vom Krieg heimgesucht wird. Es überrascht daher vielleicht nicht, dass eine der schönsten Arbeiten der Schau von einem amerikanischen Maler stammt. In „Mein Muschel-Engel“ von Sam Francis aus dem Jahr 1986 hat die Hoffnung eindeutig gesiegt. Der Zweite Weltkrieg und seine Traumata liegen in der Ferne. Die leuchtende Komposition setzt ihre strahlenden lebensbejahenden Farben in lose miteinander verbundenen Flecken, Pfützen, Wirbeln und Spritzern auf dem Weiß einer stellenweise unberührten Leinwand in Szene. Es lässt an sommerliche Felder und Wiesen denken, an ein strahlendes Meer. Bei aller malerischen Brillanz ist es von einer ekstatischen, fast kindlich wirkenden Impulsivität geprägt. Man könnte fast gänzlich unbeschwert ins Schwärmen geraten, wäre da nicht dieses düstere, unheilvolle Blau, das immer wieder durch das Bild bricht– ein Preussischblau, das von Vergangenem erzählt und daran erinnert, wie lang und wie beschwerlich der Weg zur Hoffnung war.
„Die Form der Freiheit. Internationale Abstraktion nach 1945“,
4. Juni bis 25. September,
Museum Barberini, Potsdam