Wenn es ums Wasser ging, waren die Künstlerinnen und Künstler des Jugendstils in ihrem Element. Eine Ausstellung in Wiesbaden widmet sich jetzt ihrer Suche nach der perfekten Welle
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08.07.2022
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Erschienen in
WELTKUNST Nr. 200
Mit dem Gegensatzpaar „Altkunst – Neukunst“ charakterisierte der Wiener Kritiker Ludwig Hevesi den Kontrast zum Bisherigen, während man in Frankreich von „Art nouveau“ sprach oder in Großbritannien vom „Modern Style“, der das „Arts and Crafts Movement“ fortführte und erweiterte. Von Hevesi stammt auch die Sentenz über dem Eingang der Wiener Secession: „Der Zeit ihre Kunst – Der Kunst ihre Freiheit“. Wenngleich viele Zeitgenossen damals keineswegs überzeugt waren, dass der Jugendstil ihre Kunst sei, und die Freiheit, mit der man sich ihr zuwandte, eher auf Spott als zur Begeisterung für das Neue stieß. Von der „Jugendsünde“ oder „Ornamenthölle“, von „sinnverwirrenden Folterkammern“ war die Rede, und die Künstler vermutete man fernab der Wirklichkeit auf einer „Insel der Ästheten“.
Adolf Loos lieferte mit seiner Schrift „Ornament und Verbrechen“ ein Schlagwort, das zwar vor allem das Verzierungschaos des Historismus meinte und die Kargheit der späteren Bauhaus-Ästhetik im Sinn hatte, jedoch oft genug gegen den Jugendstil gewendet wurde. „Was geschah mit der Ornamentik Otto Eckmanns, was mit der Henry van de Veldes?“, fragte der puristische Wiener Architekt rhetorisch, um sofort sein Verdammungsurteil nachzureichen: „Der moderne Ornamentiker aber ist ein Nachzügler oder eine pathologische Erscheinung. Seine Produkte werden schon nach drei Jahren von ihm selbst verleugnet.“ Das schrieb Loos 1908, als sich bereits die Abenddämmerung des Jugendstils andeutete. Nach dem Ersten Weltkrieg sollte von ihm kaum noch die Rede sein. Der Maler und Kunstschriftsteller Friedrich Ahlers-Hestermann vermerkte 1941 erstaunt in seinem Buch „Stilwende. Aufbruch der Jugend um 1900“, dass seine Studenten an den Kölner Werkschulen schon Anfang der Dreißigerjahre mit dem Jugendstil nichts mehr anzufangen wussten, die „Stilrevolution der Jahrhundertwende“ sei da längst in „Spott und Gelächter eingesargt“ worden. Das lag nicht zuletzt an ihrer Widersprüchlichkeit. Denn das Neuartige dieser Kunst der lebendigen, geschwungenen Linien drohte stets in Ästhetizismus oder in L’art pour l’art umzuschlagen, während die Verbindungen zur Lebensreform – die neuromantischen Neigungen zur Freikörperkultur, der Naturheilkunde, dem Vegetarismus, der Stadtflucht – zuweilen zum Nationalistischen oder gar Völkischen tendierten. Als „fortschrittliche Reaktion“ charakterisierte der deutsch-amerikanische Kulturhistoriker Jost Hermand deshalb den Jugendstil.
Die Wiesbadener Ausstellung bietet einiges an Anschauung zum Wesen und zum Verlauf der Kunstströmung, nicht nur zu deren heilsbringender Verklärung des Wassers. Nur den „Todesschlund“, den der Untertitel der Schau verspricht, kann man kaum entdecken. Zwar erinnert der Katalog mit Gemälden wie Munchs melancholischen Meeresblicken, Brachts von Totenschädeln übersätem „Gestade der Vergessenheit“, Akseli Gallen-Kallelas „Schwan von Tuonela“, der die Insel der Toten umkreist, an jene Wasserscheiden wie Styx und Acheron, die das Totenreich von den Lebenden trennen. Scylla, Charybdis und all die anderen Schrecken der Meere rücken jedoch nicht ins Bild, sieht man von Henri Meuniers Plakat eines Ertrinkenden vor untergehender roter Sonne ab. Und ob Hans Thoma sein „Meerwunder“ als Sinnbild der Bedrohung durch die Unheimlichkeiten des Wassers sehen wollte, bleibt offen. Das Groteske, wie es Böcklin in seinen Meeresszenen mit Najaden und Tritonen anklingen ließ, war ihm fremd.
In der Inszenierung des Wasserthemas lässt sich die kunsthandwerkliche Perfektion des Jugendstils – zu der schon die Historisten mit ihrem Eifer, die alten Fertigkeiten als Widerstand gegen die Maschinenkunst erneut aufleben zu lassen, wesentlich beigetragen hatten – ausführlich bewundern. Émile Gallé griff mit seinen Gläsern immer wieder aquatische Motive auf, Wasserpflanzen zieren seine Vasen genauso wie Kaulquappen oder Lotosblüten. Friedrich Zitzmanns Kelche, von venezianischen Beispielen inspiriert, ähneln unbekannten Blumen.
Die Lüsterware der böhmischen Glasfabrik Johann Lötz Witwe fasziniert mit ihren schillernden Oberflächen, die Öltropfen auf einer Wasserfläche gleichen. Und das Werkmodell einer großen Ziermuschel ist dem Gehäuse einer Meeresschnecke nachempfunden. Dem standen die Porzellanmanufakturen nicht nach. Auf dem zartblauen Fond der Kopenhagener erscheinen oft Fische und Schnecken als Unterglasurmalerei oder als plastisches Relief. Auch Fliesen wurden häufig mit Seerosen, Fischen, Schwänen und Libellen, mit Meeresgöttern oder seltsamen Seetieren gestaltet. Dazu kommt als schöne Nebensache noch eine Vitrine mit silbernen Fischbestecken, auch deren Design greift aufgabengerecht vielfach Motive aus der Flora und Fauna des Wassers auf.
Der Präsentation dieser Gebrauchsgegenstände, die spielerisch und schmückend auf der Jugendstilwelle reiten, ist ein Kapitel vorangestellt, in dem es um Zeitgeist und Weltanschauungen in der Kunst geht. Vor allem Karl Wilhelm Diefenbach und Fidus verstanden ihre Kunst als Manifestationen der Lebensreformbewegung. Dabei mischten sich archaische Vorstellungen von einem natürlichen Leben mit mystisch-religiösen Ideen, die eine Art edles Germanentum gegen römisch-welsche Dekadenz setzten. Der Naturalismus der Lebensreform schloss vielerlei Verzicht ein: Vegetarismus, kein Alkohol, eine Kleidung, die vor allem körperfern und körpergerecht sein sollte, Freikörperkultur als erstrebenswerte Natürlichkeit, das Leben auf dem Land als Absage an die Steinwüste der Stadt. Weites Land, Wälder und Gewässer wurden in den Bildern zum weltlichen Elysium verklärt: eine ideale Sphäre, meist von jungen Frauen bevölkert, nackt oder in nur wenig verhüllenden Kleidern, unbeschwert und ohne irgendwelche realen Beschäftigungen, sich selbst und ihrem Dasein genug. Da brauchte es keine Loreley oder männerverführenden Nixen und Nymphen mehr. Auch das Altern hatte in dieser Welt der Jugend keinen Platz. Doch was damals pure Lebensfreude propagieren und sichtbar machen sollte, wirkt heute eher weltfremd.
Inzwischen ist, das wird in Wiesbaden deutlich, einiges von dem Zauber verflogen. Der Jugendstil, im Ersten Weltkrieg dahingesiecht, dann eher geschmäht als beachtet, wurde erst Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg von der Generation der Enkel und Urenkel rehabilitiert: nun nicht als Geschmacksschule, sondern als historisches Phänomen. Und als ein wichtiger Schritt in die Moderne. Ahlers-Hestermann plädierte 1956 in der Neuauflage seiner „Stilwende“ für eine „gerechtere Einordnung“. Denn es gelte „zu erkennen, dass es sich nicht nur um eine isolierte kunstgewerbliche, mit viel Lächerlichkeiten behaftete Bewegung gehandelt hat, sondern um den Aufbruch der Jugend in das große Abenteuer der Freiheit“. Die Ausstellung beweist, dass immer noch Aspekte dieses Abenteuers neu zu entdecken sind.
„Wasser im Jugendstil. Heilsbringer und Todesschlund“,
bis 23. Oktober,
Museum Wiesbaden