Was mich berührt

Das Leuchten des Atlantiks

In seiner Kolumne „Was mich berührt“ stellt der Bestseller-Autor Daniel Schreiber jeden Monat Künstlerinnen und Künstler vor, die sein Leben begleiten. Folge 2: die Malerin Helen Frankenthaler und ihre Farben

 

Von Daniel Schreiber
24.11.2022

Es gibt Ausstellungen, die man nicht vergisst. Ausstellungen, die sich so tief ins Gedächtnis einbrennen, dass man sich auch Jahre später noch daran erinnern kann, wie das Licht in ihre Räume fiel. Wie man sich gefühlt hat, als man bestimmte Werke ein zweites oder drittes Mal anschaute, weil man den Augenblick festhalten wollte. Wie man das Museum oder die Galerie mit der Ahnung verließ, gerade etwas Einschneidendes erlebt zu haben.

Eine solche Erfahrungen machte ich 2018 im Provincetown Art Museum bei „Abstract Climates“, einer Ausstellung mit Arbeiten von Helen Frankenthaler (1928–2011), der New Yorker abstrakten Expressionistin und Farbfeld-Pionierin, die zeitlebens eine enge Verbindung zu dem kleinen Küstenstädtchen in Massachusetts unterhielt. Ich hatte das Gefühl, ihre Bilder zum ersten Mal wirklich, in einem umfänglichen Sinne zu sehen und etwas von Malerei zu verstehen, das ich vorher allenfalls geahnt hatte. In der Ausstellung schien eine Art der Kommunikation zwischen den Werken und mir stattzufinden, die ich nicht in Worte fassen konnte, und über diesen Umweg auch zwischen Frankenthaler und mir.

Als ich durch die „Abstract Climates“ ging und mich im Farbrausch von Werken wie „Cool Summer“ (1962) oder „Provincetown Window“ (1963) verlor, herausragende Beispiele für die von Frankenthaler erfundene Soak-Stain-Technik, geisterten mir die ganze Zeit die Fetzen eines Satzes von Roland Barthes durch den Kopf, den ich später nachschlug: „Wäre ich Maler“, schrieb er in „Über mich selbst“, „so würde ich nur Farben malen: dieses Feld scheint mir gleichermaßen von dem Gesetz (…) und der Natur befreit zu sein (denn kommen letzten Endes nicht alle Farben der Natur von den Malern?).“

Daniel Schreiber Was mich berührt
Daniel Schreiber, 2022. © Nikita Treyoshin

Provincetown ist eigentlich nicht der Ort, an dem man solche Erlebnisse erwartet. Völlig abgelegen liegt es am obersten Zipfel der Halbinsel Cape Cod. Lange wurde es nur von portugiesischstämmigen Familien bewohnt, die vom Fisch- und Walfang lebten. Später bildete sich hier eine kleine Künstlerkolonie heraus. Heute strömen an den Sommerwochenenden so viele Touristinnen und Touristen in die Stadt, dass man vor ihnen an einen der Strände fliehen muss, die man nur nach langen Fußwegen durchs Marschland erreicht und die so poetische Namen wie Herring Cove tragen. Aber spätabends und am frühen Morgen hat man, umgeben von den Weiten des Atlantiks, immer noch das Gefühl, dass man sich hier am äußersten Ende der Welt befindet.

Frankenthaler verbrachte viele Jahre lang ihre Sommer in Provincetown, nachdem sie 1950 als junge Frau zum ersten Mal hier gewesen war. Die Tochter einer deutschen Emigrantin und eines Richters am New York State Supreme Court war in Manhattan in der Upper East Side aufgewachsen und nach ihrem Kunststudium an der Dalton School und am Bennington College zurück nach New York gezogen, um das zu erreichen, was für Frauen in jenen Jahren so gut wie unmöglich war: Malerin zu werden. Sie fand Anschluss an die New Yorker Szene der abstrakten Expressionisten um Jackson Pollock, Mark Rothko, Willem de Kooning, Franz Kline und Robert Motherwell, die zu diesem Zeitpunkt noch kaum jemand kannte.

Im Frühjahr 1950 kam sie mit dem bekannten Kunstkritiker Clement Greenberg zusammen, dessen Texte den theoretischen Überbau für die neue Bewegung lieferten und der fast 20 Jahre älter war als sie. Die Beziehung sollte fünf Jahre halten. Es war Greenberg, der Frankenthaler empfahl, Hans Hofmanns einflussreiche Sommermalschule in Provincetown zu besuchen, wo sie sich ins Meer verliebte. Die abstrakten Plein-Air-Bilder, die in jenen Monaten in der offenen Veranda ihres Hauses mit Blick auf das Wasser entstanden, gelten als ihre ersten eigenständigen Werke. Darin löste sie sich nicht nur von ihren malerischen Vorbildern und warf viele gängige Malkonventionen über Bord, sie entwickelte auch eine ganz eigene maritime Fluidität, ein ozeanisches Leuchten, eine aquatische Farbintensität, die es nur geben kann, wenn sich das Sonnenlicht in den Weiten des Atlantiks spiegelt.  

In den Worten von Mary Gabriel, der Autorin des Buchs „Ninth Street Women“, waren die „bedeutendsten Statements“ des abstrakten Expressionismus schon gemacht, als Frankenthaler zu malen begann. „Jackson Pollock hatte seine sogenannten Drip Paintings erschaffen. Mark Rothko hatte sein ätherisches Licht entdeckt. Willem de Kooning hatte zur reinen Abstraktion gefunden (…)“. Frankenthaler ging es wie ihren großen Zeitgenossinnen Lee Krasner, Elaine de Kooning, Joan Mitchell und Grace Hartigan: Sie stand vor einer gewaltigen Herausforderung. Die Gesellschaft gestand Frauen in der Kunst nach wie vor höchstens die Rolle von Musen zu, und die im Gegensatz zu ihnen als Genies gefeierten Männer sahen in ihnen vor allem Ehefrauen oder Sekretärinnen.

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