In seiner Kolumne „Was mich berührt“ stellt der Bestseller-Autor Daniel Schreiber jeden Monat Künstlerinnen und Künstler vor, die sein Leben begleiten. Folge 2: die Malerin Helen Frankenthaler und ihre Farben
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In den Sommern in Provincetown ging Frankenthaler nach und nach dazu über, Acryl- statt Ölfarbe zu verwenden, die sie allerdings auf die gleiche Art und Weise benutzte. Regnerische Tage schlugen sich in Farbmeeren aus Goldocker und Grünerde nieder, ein kühler Sommer fand in einem Tanz fluider Flächen aus Indischgelb, Coelinblau und Zinnobergrün Ausdruck. Bis heute bin ich davon überrascht, wie exotisch, delirierend und halluzinatorisch die Farben ihrer Werke in Provincetown waren, wie vollständig sich in ihren Bildern das anarchische Versprechen von Farbe einlöste: Ihre seltsame Unvorhersehbarkeit, ihre manchmal schamlos dekorative Macht, ihre radikale Flüchtigkeit. Wenn Farben visuelle Fiktionen des Lichts sind, waren Frankenthalers Farben die gewaltigsten Fiktionen, die ich seit Langem gesehen hatte, sie waren die „Ilias“ und die „Odyssee“ der Malerei, sie waren alle Romane von Leo Tolstoi, Gustave Flaubert und Edith Wharton zusammen.
Jener Sommer übrigens sollte mein bis dato letzter in Provincetown werden. Weil ein großzügiger Freund mich in das Haus, das er sich dort mietete, einlud, war ich eine Zeit lang jedes Jahr in das Küstenstädtchen gekommen. Doch dieser Freund würde nach dem Sommer nach Barcelona ziehen und seine freie Zeit am Mittelmeer verbringen. Vielleicht lag es auch mit daran, dass mich die Ausstellung so berührte und Frankenthalers Arbeiten für mich so unabdingbar mit den Aufenthalten auf Cape Cod verbunden sind. Die Werke der Ausstellungen beschrieben nichts, ihr Blau ließ sich nicht im Rauschen des Atlantiks wiederfinden, ihre Ockertöne nicht in den Dünen des Strands – dennoch ergaben sie an diesem Ort einen ganz besonderen Sinn. Es war, als würde ich die psychischen Bilder, die Frankenthaler unter Einsatz ihres Körpers auf die Leinwände bannte, mit meinem eigenen Körper verstehen. Sie kamen mir wie ein Schlüssel zu dem Ort vor, den ich so liebte. Sie zeigten mir, wie ich ihn wirklich sehen konnte.
Genau darin lag jene kommunikative Kraft der Bilder dieser Ausstellung, für die ich keine Worte fand. Unter ihrer Anleitung und erfüllt von einem Gefühl des Abschieds schien ich in den Tagen danach alles intensiver wahrzunehmen, schien den Menschen, denen ich begegnete, offener gegenüber zu sein, war durchlässiger für die Atmosphäre des pittoresken Städtchens, für die salzige Luft, die brennende Sonne und das intensive Licht, das sich in den Weiten des Atlantiks spiegelte. Ein Licht, das einen wie viele der Arbeiten Frankenthalers, berauschen kann.
„Helen Frankenthaler. Malerische Konstellationen“
Museum Folkwang, Essen
2. Dezember 2022 bis 5. März 2023