Museum Albert Kahn

Das Archiv des Planeten

Eines der schönsten Geheimnisse von Paris liegt auf halber Strecke zwischen Versailles und Eiffelturm: Das Musée Albert Kahn nimmt uns mit auf eine Zeitreise – dank eines Mannes, der die ganze Welt bewahren wollte

Von Annabelle Hirsch
17.02.2023
/ Erschienen in WELTKUNST Spezial 01/2023

Es ist bezeichnend, dass der Journalist des Ciné-Club von „Monsieur K …“ sprach, nicht von Albert Kahn. Es sagt viel über diesen Mann, der die ganze Welt sehen und in Bildern einfangen wollte, der Kamera selbst aber stets auswich. Ein einziges Mal posierte er für ein Porträt, das war 1914. Man sieht ihn dort auf dem Balkon seiner Bank in der Rue Richelieu in Paris, ernst, würdevoll. Ansonsten gab Kahn sich zurückhaltend, wie so viele jüdische Bürger im Frankreich der Post-Dreyfus-Affäre. Der Justizskandal um den zu Unrecht der Spionage beschuldigten Offizier Alfred Dreyfus hatte die Gesellschaft Ende des 19. Jahrhunderts gespalten und die wachsenden antisemitischen Ressentiments zutage treten lassen. Als Jude tat man gut daran, sich diskret zu verhalten. Dementsprechend weiß man recht wenig über den mysteriösen Herrn K. Immerhin so viel: 1860 als Sohn einer Viehhändlerfamilie im elsässischen Marmoutier geboren, interessierte sich Albert, der damals noch Abraham hieß, wohl schon früh für Handel und Kommerz. Mit sechzehn Jahren emigrierte er aus seiner nunmehr deutschen Heimatregion nach Paris und begann dort, nach einem kurzen Intermezzo als Schneiderlehrling, in der Bank entfernter Cousins, der Gebrüder Goudchaux, zu arbeiten. Der Namenswechsel muss etwa zu dieser Zeit stattgefunden haben. Er sollte dem jungen Mann ermöglichen, in den Kreisen der republikanischen Elite Fuß zu fassen. Philanthropie, Laizismus und Fortschrittsglauben waren hier zentrale Themen, wobei auch der koloniale Expansionsgedanke unumstritten hoch im Kurs stand. Man strömte hinaus in die Welt, weniger um sie kennenzulernen, als vielmehr um neue Märkte zu erschließen. Und es scheint, als habe Kahn früh ein Gespür dafür gehabt. Nach einer Reise nach Südafrika im Jahr 1888 spekulierte er erfolgreich mit Diamanten und Gold, verdiente ein Vermögen und wurde zum Partner der Goudchaux-Bank ernannt. Als nunmehr angesehener Geschäftsmann reiste er viel. Noch vor 1900 war er in Vietnam, Venezuela, Ägypten und Russland und begeisterte sich für die bunten Facetten der Welt. Besonders schlug sein Herz für Japan, einen Ort, in den er als einer der ersten Europäer investierte. Kahn wurde reich, wurde Millionär, eine Zeit lang galt er als einer der reichsten Männer Europas. Doch der Erfolg im Finanzwesen erfüllte ihn nur bedingt. Er sei „nicht sein Ideal“, nicht sein Ziel, so schrieb er es damals seinem guten Freund, dem Philosophen Henri Bergson. Kahn suchte nach etwas anderem, nach einer Möglichkeit, sich in die Gesellschaft einzubringen und ihre Entwicklung zu fördern. Sie in eine positive, pazifistische Richtung zu lenken, davon träumte er. Die Frage war nur: Wie stellt man das an?

Glacier des Bossons Haute-Savoie Frankreich Albert Kahn
Die Aufnahme des Gletschers Glacier des Bossons in Haute-Savoie, Frankreich, entstand im Jahr 1921. © Frédéric Gadmer/Die Aufnahme aus dem Albert Kahn Archiv „Das Dorf Horda in Norwegen“ entstand 1910. © Auguste Léon/Musée Départemental Albert Kahn

Ein seinerzeit klassischer Weg, sich einzubringen, wäre das Sammeln von Kunst gewesen. Nur scheint es, als habe Kahn keine besonders ausgeprägte Faszination für das damals so schillernde Kunstmilieu der französischen Hauptstadt und die aufstrebende Avantgarde gehabt. Immerhin: Auguste Rodin mochte er gerne. Einmal lud er den Bildhauer sogar dazu ein, mit ihm nach Bayreuth zu den Festspielen zu fahren, um Wagners Musik zu lauschen. Er kaufte regelmäßig seine Skulpturen und finanzierte seine große Retrospektive, die 1900 am Rande der Weltausstellung stattfand, maßgeblich mit. Für das gezielte, über ein paar freundschaftliche Verbindungen hinausgehende Sammeln fehlte es Kahn aber wohl an Passion. Vielleicht auch schlicht an Interesse. Denn anders als die meisten Männer (und Frauen) seines Milieus und seiner Zeit sehnte der Finanzier sich nicht danach, der Realität des Lebens zu entfliehen, dem Alltag und dem angeblich „Gewöhnlichen“ aus dem Weg zu gehen, sondern suchte ganz im Gegenteil nach Möglichkeiten sich damit zu konfrontieren: „Ich wollte die Wege des Lebens und die Funktionsprinzipien des Universums nachvollziehen“, erklärte er einmal 1938, zwei Jahre vor seinem Tod. So gesehen ist es kein Wunder, dass seine Suche ihn schon bald zu jenen quasi parallel zu seinem Wunsch aufkommenden Techniken führen würde, die dem vermeintlich objektiven Einfangen der Realität am Nächsten kamen: dem Film und vor allem der Farbfotografie. Doch bevor er sich diesen widmete, um die Arbeit an den „Archives de la Planète“ aufzunehmen, setzte er 1895 – zufälligerweise dasselbe Jahr in dem die Brüder Lumière erstmals ihre als „zukunftslos“ belächelte Erfindung des „cinématographe“ vorführten – mit seinem Garten den Grundstein aller kommenden Vorhaben. Ein bisschen Europa, ein bisschen Ferner Osten, ein bisschen Mittelmeer, Erde und Pflanzen aus unterschiedlichen Regionen des Globus an einem Fleck vereinen war der universalistische Grundgedanke seines Parks, der auch allen folgenden Projekten zugrunde liegen würde. Heute läuft man hier durch einen mit Felsen durchsetzten Fichtenwald, einen duftenden Rosengarten, vorbei an Zedern und Obstbäumen, lustwandelt durch einen japanischen und einen englischen Garten, vorbei an einer kleinen Prärie, einem Teich mit japanischen Fischen und einem Wintergarten. Der Park sei, so sagte es einmal eine Besucherin, der Ort, an dem man sein Auge reinigt, bevor man sich in den bunten Kosmos des Archivs, also das pralle Leben stürzt.

Tatsächlich bot der Garten in gewisser Weise den Nährboden für alles Folgende. Er funktioniert als Rahmen, als Grundgerüst einer Utopie, die nunmehr durch immer neue Bausteine erweitert werden würde: Das um 1898 von ihm ins Leben gerufene „Autour du Monde“-Stipendium zum Beispiel. Als guter Republikaner war Kahn davon überzeugt, Bildung sei die Basis einer funktionierenden Gesellschaft und Lehrer somit ihre Pfeiler, nur glaubte er auch, dass das Bücherwissen allein nicht mehr ausreichen würde. Man müsse reisen, um seinen Geist zu wecken, man müsse über den eigenen Tellerrand hinausschauen und andere Sichtweisen verstehen lernen, Empathie und Toleranz durch die Begegnung mit dem anderen fördern, auch weil dies für den Frieden unabdingbar war, so Kahns Überzeugung. Sein Förderprogramm richtete sich dementsprechend an angehende Lehrer und Professoren und sollte ihnen ermöglichen, ihr erlerntes Wissen durch den direkten Kontakt „mit den Ideen, Gefühlen und Leben anderer Menschen“ zu erproben, zu erweitern und somit an ihre Schüler weiterzugeben: „Ich hoffe“, so schrieb er in diesen Jahren, „dass aus diesem jährlich wiederholten Experiment einige Erkenntnisse gewonnen werden, die auf die Führung unseres Landes einen positiven Einfluss haben können.“

Albert Kahn
Albert Kahn 1914 auf dem Balkon seiner Bank in Paris. © Musée Départemental Albert Kahn

Kahns legendäre Diskretion zeigt sich auch in diesem Zusammenhang noch einmal. Es war der Universität Sorbonne, die den Preis vergab, strikt untersagt, seinen Namen zu nennen. Am Ende lernten die jungen Akademiker ihren Förderer aber doch schon recht bald kennen. Als Teil des nächsten Projektes, der „Société Autour du Monde“, oder, wie Henri Bergson es etwas ironisch nannte, als Teil von Kahns „Boulogne Community“, wurden sie jeden Sonntag zu einem informellen Mittagessen in seinen Garten geladen. In Anwesenheit illustrer Gäste wie Thomas Mann, Albert Einstein, Rabindranath Tagore, Edmund Husserl, Marie Curie und anderen Persönlichkeiten der Wissenschaft, der Literatur und Politik unterhielt man sich hier über die Lage der Welt. Stipendiaten berichteten von ihren Reisen und Begegnungen, unterwegs gewonnene Erkenntnisse wurden zur Diskussion gestellt und Impressionen miteinander verglichen.

Wie Albert Kahn selbst sich bei diesen Treffen einbrachte, ist nicht ganz klar. Die spärlichen Informationen über seine Persönlichkeit lassen sich in wenigen Sätzen zusammenfassen: Man habe ihn leicht mit einem seiner Gärtner verwechseln können, weil er so unscheinbar wirkte, erinnerte sich einer seiner Stipendiaten. Er sei eher klein gewesen, trug stets einen sehr schlichten dunklen Anzug, einen Hut und ein Cape. Sein Blick, so erzählte es wiederum die Tochter eines seiner Weggefährten, sei unglaublich gewesen: „leuchtend“, der eines „mysteriösen und konzentrierten“ Mannes, dessen Geist stets ganz von seinen „großen Projekten eingenommen zu sein schien“. Andere sprachen gerne von seinem elsässischen Akzent, von seiner Liebe zu Bergson, den er für einen lebendigen Gott hielt, von seiner Leidenschaft fürs Wandern und seinen kleinen Extravaganzen. Etwa die, seinen Chauffeur nach anstrengenden Arbeitstagen zu bitten, ihn aufs Land zu fahren, um dort auf dem Rücksitz seines Wagens mit Blick auf die Sterne zu übernachten. Apropos Chauffeur: Es war Albert Dutertre, Kahns Fahrer, der 1908 während einer gemeinsamen Weltreise die allerersten Bilder für die nun endlich gedeihende Idee des Archivs anfertigte. Mit dem Garten, dem Stipendium und der „Société“ waren die Grundlagen geschaffen, nun war es Zeit, die Bilder hereinströmen zu lassen. Dutertres Aufnahmen zeigen Landschaften, Straßenszenen, Porträts und andere Momente des Lebens, eine Frau, die sich auf einem New Yorker Boulevard den Hut zurechtrückt, Kinder, die irgendwo in Japan auf der Straße mit einem Ball spielen. Hinzu kam ein Tagebuch und einige Filmaufnahmen. Die Flüchtigkeit des Moments scheint hier im Zentrum der Aufmerksamkeit gestanden zu haben, was auch erklärt, weshalb die meisten seiner Bilder, anders als der Großteil der folgenden, mit einer damals besonders bei der gerade erst aufkommenden Gattung des „Touristen“ sehr beliebten „Vérascope Richard Stereoskop“-Kamera, also in Schwarz-Weiß, fotografiert wurden. Zwar hatten die Gebrüder Lumière das durch Kartoffelstärke kolorierende „Autochrome“-Verfahren im Jahr zuvor, 1907, endlich auf den Markt gebracht, nur eignete es sich wegen seiner langen Belichtungszeit kaum für das Einfangen des Geschehens „sur le vif“, in Aktion, zumal die benötigten Glasplatten wenig handlich und das gesamte Verfahren höchst kostspielig waren.

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