Museum Albert Kahn

Das Archiv des Planeten

Eines der schönsten Geheimnisse von Paris liegt auf halber Strecke zwischen Versailles und Eiffelturm: Das Musée Albert Kahn nimmt uns mit auf eine Zeitreise – dank eines Mannes, der die ganze Welt bewahren wollte

Von Annabelle Hirsch
17.02.2023
/ Erschienen in WELTKUNST Spezial 01/2023

Die Verlagerung hin zur immobilen Ästhetik in Farbe, die Albert Kahns Inventar der Welt auszeichnet, fand kurz nach der Rückkehr von seiner Weltreise während einer Abendpräsentation der Reisebilder des französischen Fotografen Jules Gervais-Courtellemont statt. Die vorgeführten Autochrom-Aufnahmen des Orients, aus Algerien, Marokko und dem Nahen Osten, begeisterten den Bankier wohl dermaßen, ihre Lebendigkeit, das Gefühl der Unmittelbarkeit beeindruckten ihn so sehr, dass er den Beschluss fasste, diese brandneue Technik von nun an systematisch einzusetzen, um die Welt in all ihren Facetten und Farben einzufangen. Ein letztes Mal, wie er sagte. Die Diversität, die er so schätzte, würde mit der Zeit – auch wegen des nun langsam erstarkenden Tourismus – verloren gehen, davon war er überzeugt, die Unterschiede würden sich auf allen Gebieten des Lebens auflösen und einer gewissen Uniformisierung weichen, weshalb es ihm unabdingbar schien, das breite Spektrum des Auf-der-Welt-Seins noch einmal in Bildern zu fixieren. Und zwar so schnell es ging.

Albert Kahn Bucht von Halong
Ein beliebtes Reiseziel: Die Halong-Bucht im heutigen Vietnam. Kahns Aufnahme entstand zwischen den Jahren 1914 und 1915. © Léon Busy

Von 1912 bis in die frühen Dreißigerjahre schickte Kahn eine Truppe professioneller Fotografen in alle Ecken der Welt. Auguste Léon war der erste, es kamen mindestens fünf weitere hinzu, darunter auch eine Frau, Marguerite Mespoulet, die 1913 das erste Farbfoto Irlands anfertigte. Sie reisten nach Vietnam, Japan, China, Korea, Indonesien, Sri Lanka, Montenegro, Iran, Irak, Afghanistan, Yemen, Syrien, Marokko, in die Türkei, nach Kamerun und Benin, nach Bosnien, Bulgarien, Serbien, in die USA, nach Indien, Irland, Deutschland, Italien, Griechenland, fotografierten im privaten wie im öffentlichen Rahmen, dokumentierten politische Umbrüche, Naturkatastrophen, Kriege und die langsame Veränderung des Alltags.

Alles sollte aufgenommen und kategorisiert werden, schließlich ging es weniger darum, schöne Bilder zu generieren, als vielmehr um eine Art anthropologische und soziologische Erforschung des Lebens. Der Gedanke ist im Grunde ähnlich wie beim „Autour du Monde“-Stipendium: Erst wenn man mit Differenz konfrontiert wird, kann man lernen, sie zu akzeptieren und ihre Schönheit zu erkennen. Kahn wollte nicht dem Geist der Veränderung entgegenwirken, er hatte keine konservative Haltung, sondern für die Zukunft Zeugnis ablegen: Wie sah die Welt um die Jahrhundertwende aus? Wie waren die Menschen? Wie ist der Übergang zwischen Tradition und Moderne vonstattengegangen? Kann man die Transition bildhaft wahrnehmen? Für den wissenschaftlichen Unterbau engagierte Kahn den Geografen Jean Brunhes, Mitbegründer der sogenannten „Humangeografie“, dessen Kurse am berühmten Collège de France in Paris damals auch die einzigen Gelegenheiten für die Außenwelt waren, Teile des Archivs, Fotografien und Filmausschnitte, zu erleben. Denn auch wenn Kahn und Brunhes gleichermaßen an die erziehende Kraft der Bilder glaubten und davon überzeugt waren, dass diese den Menschen ein Gefühl für die Welt geben könnten, blieb ihr Anblick doch einem elitären Kreis von Gästen vorbehalten. Von einigen wenigen akademischen Gelegenheiten abgesehen waren es meist nur Dichter, Denker und Künstlerinnen, wie der japanische Maler Foujita, die Schriftstellerin Colette, die Schauspielerin Sarah Bernhardt, die in den Genuss der neuesten Entdeckungen von Kahns Fotografen kamen.

Das Dorf Horda in Norwegen Albert Kahn
Die Aufnahme aus dem Albert Kahn Archiv „Das Dorf Horda in Norwegen“ entstand 1910. © Auguste Léon/Musée Départemental Albert Kahn

Fast zwanzig Jahre lang lud der Bankier regelmäßig dazu ein, neue Regionen der Welt und ihre Riten zu entdecken, bis der Börsenkrach 1929 diese Utopie abrupt beendete. Kahn verlor alles. Sein Besitz wurde versteigert, die Sammlung ebenso wie der Garten von der Stadt aufgekauft, er durfte weiterhin in seinem Haus bleiben, starb allerdings allein und verarmt 1940, zwei Monate nach dem Einmarsch deutscher Truppen in Paris. Es heißt, Albert Kahn habe bis zum Schluss, bis zu seinem Tod daran geglaubt, sein Projekt noch beenden und jeden noch so abgeschiedenen Fleck der Welt einfangen zu können.

Wenn man heute an der großen Wand vorbeischlendert und eintaucht in diese ferne Zeit, weiß man zwar, dass es dazu nie kam. Geglückt ist sein Projekt dennoch. Es überkommt den Betrachtenden zwangsläufig eine große Rührung und Zuneigung für die Welt und die Menschen, wenn man hier in ihre amüsierten, hoffnungsvollen, bemüht ernsten oder auch einfach gleichgültigen Gesichter schaut, sieht, wie lebendig sie sind. Die Distanz schwindet. Ob sie ahnten, was ihnen bevorstand? Wussten auch sie, dass bald alles ganz anders werden würde, manches besser, manches schlechter? Spürten sie die nahenden Weltkriege? Was ist wohl aus den Kindern geworden, die so stolz in das neumodische Gerät blicken? Die Welt von gestern ist in Boulogne-sur-Seine dank des sympathischen Größenwahns dieses einen Mannes keine ferne Erinnerung, die verlorene Zeit kein nostalgischer Ort. Sie und ihre Bewohner sind zum Greifen nah, fast so, als säßen sie just in diesem Moment noch immer in ihren schönen Kostümen auf einer Bank, ständen auf einem Felsen oder in einem Feld.

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