Niki de Saint Phalle

Knalleffekt

Die Frau, die auf ihre Bilder schoss: Niki de Saint Phalle ist mit ihrer erstaunlichen Kunst aus fünf Jahrzehnten in der Frankfurter Schirn neu zu entdecken

Von Rose-Maria Gropp
21.02.2023
/ Erschienen in WELTKUNST Nr. 210

Mit achtzehn Jahren hatte Niki de Saint Phalle den gleichaltrigen späteren Schriftsteller Harry Matthews geheiratet, ihre Kinder Laura und Philip kamen 1951 und 1956 zur Welt, schon 1952 war die Familie nach Paris umgezogen. Nach einem Nervenzusammenbruch mit stationärer Behandlung 1953 begann sie zu malen, schuf als Autodidaktin erste Collagen, die der Outsider Art verwandt sind, gegen Ende der Fünfzigerjahre auch Assemblagen, die an Arbeiten etwa Jean Dubuffets erinnern können.

Niki de Saint Phalle Kennedy-Kroutchev
Das Schießbild „Kennedy-Kroutchev“ von 1962. © Benedikt Werner/2023 Niki Charitable Art Foundation/bpk/Michael Herling/courtesy Sprengel Museum Hannover/VG Bild-Kunst, Bonn 2023

Was sich als ihr prägendes Kindheitserlebnis herausstellen sollte, wird sie erst 1994, da ist sie 64 Jahre alt, in ihrem Film „Mon secret“ offenbaren. Ihr Vater vergewaltigte sie, als sie elf Jahre alt war: das Trauma ihres Lebens. In ihren künstlerischen Aktivitäten suchte und fand sie immer wieder die Möglichkeit, damit umzugehen. Von ihrem Mann trennte sie sich 1960. Bei ihm ließ sie die Kinder zurück, nachdem sie 1956 dem schweizerischen Künstler Jean Tinguely begegnet war, den sie 1971 auch heiratete und mit dem sie bis zu seinem Tod zwanzig Jahre später intensiv zusammenarbeitete. In die Gruppe der Nouveaux Réalistes, zu der auch Yves Klein, Raymond Hains oder Daniel Spoerri gehörten, wurde sie 1961 aufgenommen, als einzige Frau. In diesem Umfeld fand sie zu ihren aufregendsten Aktionen, den „Tirs“, ganz wörtlich Schüsse nämlich, die sie vor Publikum mit einem Karabiner auf eigene Werke abfeuerte oder auch Freunde wie Jasper Johns und Robert Rauschenberg, die sie in New York kennengelernt hatte, feuern ließ. Sie werden de Saint Phalle in die Anfänge der Historie von Happening und Performance eingehen lassen, als einzige Künstlerin in deren früher Phase. Sie wird zur weiblichen Gallionsfigur der Avantgarde in Frankreich, in Europa überhaupt.

In ihren Aktionen, die oft gefilmt wurden, befreite sie sich gleichermaßen von Aggression und Autoaggression. So entstanden die inzwischen legendären „Schießbilder“, die in ihrer ursprünglichen Beschaffenheit an ihre früheren Arbeiten anschließen. Hinter den krustigen weißen Gipsbemalungen der Großformate waren Farbbeutel verborgen, auf ihren Oberflächen diverse Gegenstände befestigt, Obst, Eier, Plastikflaschen, Blechbüchsen. Die Zerstörung durch die Schüsse wurde so zugleich Schöpfung, wenn die weißen Wände „bluteten“, wenn sich Farbströme über sie ergossen. Es ließe sich nicht nur sagen, dass der Begriff des „Art brut“ mit Niki de Saint Phalle, ganz buchstäblich, eine weitere Sinnebene gewann. Sondern sie machte sich mit diesen, wahrhaft revolutionären, Übungen zur Bildhauerin, auf eine bis dahin nicht gesehene Weise. Ans Ende ihres surrealen Films „Daddy“ setzte sie Szenen ihrer Schießaktion „La mort du Patriarche“. Sie galt der Assemblage einer mächtigen Gestalt mit kleinem Kopf, auf dem Corpus in der Mitte ein vertikal ragendes Flugzeug. Sie scheint dort gleichzeitig auf das Patriarchat und auf den eigenen Vater zu schießen, wenn es am Ende heißt: „Au revoir, Papa. … Ceci n’a rien de personnel.“ Und, an die Mutter gerichtet: „Enfin … Papa est mort!“

Als eines der letzten Male schoss sie 1963 auf das monumentale Gipsrelief „King-Kong“, das in Frankfurt zu sehen ist. Doch ehe die Tirs zum Ritual erstarrten, gab sie diese Exerzitien auf; die Geburtsstunde der Nanas schlug. In der Galerie der Schirn hat die Kuratorin Katharina Dohm die Schießbilder an den Anfang gesetzt, was zugleich ihre starke ästhetische Wirkung und die Bedeutung in Niki de Saint Phalles Œuvre unterstreicht. Dort hängt auch jener weiße Overall, in dem sie mehrfach auftrat, ihr „Schießanzug“, ein bisschen wie eine melancholische Reliquie.

Natürlich hatte Niki de Saint Phalle das Skandalon ihrer Kunst in der weiteren Öffentlichkeit voraussehen können. Und sie posierte selbst auch gern. Sie wusste gut, dass sie schön war, das stellte sie immer wieder zur Schau, mit und ohne ihre Werke. Sie gab eine elegante Schützin ab, wenn sie etwa im engen schwarzen Hosenanzug mit weißen Spitzenmanschetten und Spitzenkragen auf den „Tod des Patriarchen“ anlegte. Mit graziler Erscheinung und sibyllinischen Lächeln war sie das Gegenbild ihrer unförmigen gesichtslosen Nanas. Provokation war überhaupt eine ihrer Stärken. In Peter Schamonis Film erklärte sie: „Ich bin gezwungen, in meinen Arbeiten jede Art von Freude, Begierde, Wut und Schmerz und Humor zu offenbaren. Es ist mein ganzes Leben. Nichts bleibt verborgen.“ Dann: „Anstatt Terrorist zu werden, wurde ich ein Terrorist der Kunst.“ Und sie spricht von ihrer Kunst als „Rache an den Männern“, vom Leiden an ihnen habe ihre Kunst viele Jahre gezehrt, sie dankt ihnen dafür. Der Dank ist berechtigt, denn Männer waren ihre Kollaborateure in jedem Sinn, nicht nur Tinguely – mit dem gemeinsam sie große und großartige Werke schuf wie zum Beispiel den Strawinski-Brunnen vor dem Centre Pompidou in Paris -, sondern auch ihre langjährigen Assistenten. Mit ihnen agierte de Saint Phalle im Kollektiv und in einer künstlerischen Solidarität, die keineswegs als selbstverständlich gelten kann.

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