Sein Gesamtwerk ist klein, sein Ruhm riesengroß. Und das „Mädchen mit dem Perlenohring“ ist die Mona Lisa der niederländischen Malerei. Nun kommt das Bild mit 27 weiteren Gemälden Vermeers im Amsterdamer Rijksmuseum zum Ausstellungsereignis des Jahres zusammen.
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09.02.2023
Vermeer. In großen Lettern steht sein Name auf den Bannern vor dem Amsterdamer Rijksmuseum. Aber sollte es nicht vielleicht besser „Vermeers“ heißen? Den einen, den einheitlichen Vermeer, den scheint es doch nicht gegeben zu haben. Man findet ihn auch nicht in dieser Ausstellung, der doch immerhin das Kunststück gelungen ist, von 37 erhaltenen Gemälden des 1632 in Delft geborenen und 1675 dort verstorbenen Barockmalers noch einmal stolze 28 zusammenzubringen. Die zweite umfassende Überblicksschau zu Vermeer erst, nach einer großen Einzelausstellung 1995/1996. Wenn man den hohen Stellenwert seiner Gemälde bedenkt, vielleicht auch schon die letzte.
Denn kein Museum der Welt trennt sich gern für längere Zeit von einem Vermeer, der fast immer ein Glanzstück und Lieblingswerk in der Haussammlung ist. Da die Frick Collection in New York, die gleich drei Bilder des Malers besitzt, gerade renoviert wird, waren die dortigen Kuratorinnen und Kuratoren ausnahmsweise leihfreudig. Und dann schickten auch das Mauritshuis in Den Haag, der Louvre in Paris, das New Yorker Metropolitan Museum, die National Gallery of Art in Washington, die Gemäldegalerie in Berlin oder die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden ihre Schätze. Nun kann man all die herrlichen Gemälde beisammen sehen. Bei jedem anderen Künstler dürften drei Viertel des Gesamtoeuvres ausreichen, damit man ein klares Bild von seiner Motivation bekommt. Nicht so bei Johannes Vermeer, von dem es außerdem keinerlei erhaltene Briefe oder Tagebücher gibt. Es ist wie verhext: Man schaut und schaut und rätselt und ist am Ende nur ein wenig schlauer als zuvor. Wie passt das alles zusammen? Eben nur durch Harmonie in Heterogenität. „Vermeer ist jedes Bild auf neue und andere Art angegangen“, erklärt Pieter Roelofs, Leiter der Gemäldeabteilung des Rijksmuseums und Co-Kurator der Ausstellung, beim Presserundgang.
Schon im Anfangsraum hat man anhand von zwei Bildern den Eindruck zwei Maler zu sehen. „Ansicht von Häusern in Delft“, auch „Die kleine Straße“ genannt, (ca. 1658–1659) gehört zu den vier Vermeers in der Rijksmuseum-Sammlung und gilt als ein frühes Meisterwerk: Der Blick fällt auf den Ausschnitt der im Titel erwähnten Häuserzeile. Zwei Frauen sind mit Arbeiten im Türeingang und in einem kleinen Durchgang beschäftigt, zwei Kinder hocken im Spiel vertieft auf der Straße. Die eigentliche Hauptperson des Bildes ist jedoch die Gebäudefront auf der rechten Seite. Vermeer lässt helles Licht darauf fallen, so dass die roten Ziegel warm aufglühen. Jeden einzelnen Stein in der Mauer hat der Maler minutiös wiedergegeben, genauso wie die Gitter der Fenster oder die Läden, an deren Holz man sogar den Fortschritt der Verwitterung abzulesen meint. Mit mehr Mühe und Liebe kann man ein Haus nicht in Farbe auf Leinwand bauen.
Völlig anderes geht der Maler dann in der nur wenig später entstandenen „Ansicht von Delft“ (ca. 1660–1661) vor: Hier lösen sich die individuellen Details in der lichtflirrenden Gesamtstimmung auf. Vermeer gilt als der große Maler des Lichts unter den Künstlern des niederländischen Barocks, und in dieser Stadtansicht beweist er sein Können meisterlich. Im Hintergrund sind die Sonnenstrahlen im pastos modulierten Turm der Nieuwe Kerk aufmerksamkeitsheischend eingefangen. Im Kontrast dazu bestehen die Steinquader der Häuser an der Kanalbrücke in der Nahsicht lediglich aus angedeuteten braunen Flecken, die durch die hingehuschten hellen Fugen akzentuiert werden. Die dunklen Planken des Bootes am rechten Bildrand scheinen nur durch getupfte Sonnenglanzlichter zusammengehalten.
Aus der Ferne betrachtet, füllt unser Gehirn die Informationslücken zu einem stimmigen Bild. Vermeintlich schuf Vermeer hier die Vedute einer stolzen niederländischen Handelsstadt, in Wahrheit malt er jedoch seine individuelle Sichtweise auf ein in der Erfindung leicht zurechtgerücktes Delft. Wer sich bei dieser Thematisierung des eigenen Sehvorgangs an den gut dreihundert Jahre später entstandenen Impressionismus erinnert fühlt, liegt gar nicht so verkehrt. Sie beschert uns Menschen der Moderne ein Gefühl der Vertrautheit mit der Kunst Vermeers, über die Zeiten hinweg.
Die aufgelösten Konturen, die manche Werke Vermeers auszeichnen, haben schon in den 1960er-Jahren zu der Vermutung geführt, der Maler habe die Funktionsweise einer Camera obscura studiert. Bei diesem Vorläufer unseres Fotoapparats fällt Licht durch ein Loch in einen verdunkelten Raum oder ein tragbares Gehäuse und projiziert ein Bild an die Wand, das im Brennpunkt scharf, in anderen Teilen jedoch unscharf ist. Wie Gregor J. M. Weber, Co-Kurator der Ausstellung und Head of Fine Arts am Rijksmuseum, in seinem neuen Buch „Johannes Vermeer: Faith, Light and Reflection“ (2022) ausführlich darlegt, lebte Vermeer am Delfter Oude Langendijk in direkter Nachbarschaft zu einem verborgenen Ordenshaus der Jesuiten. Und in deren Predigten findet die Camera obscura gelegentlich gleichnishafte Erwähnung.