Sein Gesamtwerk ist klein, sein Ruhm riesengroß. Und das „Mädchen mit dem Perlenohring“ ist die Mona Lisa der niederländischen Malerei. Nun kommt das Bild mit 27 weiteren Gemälden Vermeers im Amsterdamer Rijksmuseum zum Ausstellungsereignis des Jahres zusammen.
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09.02.2023
In seinen Ausführungen zieht Weber zudem ein jüngst im Rijksmuseum-Depot wiederentdecktes Werk als entscheidendes Indiz heran: Der Jesuitenpater und Maler Isaac van der Mye, der im Ordenshaus am Oude Langendijk arbeitete, schuf um 1650 seine Zeichnung einer älteren Frau als Heilige Appolonia höchstwahrscheinlich mithilfe einer Camera Obscura. Der Jesuit verstarb 1656, in dem Jahr, als erstmals unscharfe Partien in Vermeers Bildern auftauchten. Hatte dieser das technische Hilfsmittel von seinem Nachbarn übernommen?
Obwohl ein Resträtsel bleibt, darf das Studium der Effekte einer Camera obscura durch Vermeer nunmehr als recht gesichert gelten. Sie erklärt auch einen Teil der Faszination, die seine Gemälde heute auf uns ausüben: Wie Fotos transportieren sie uns in eine vergangene Epoche. Auch in einem seiner berühmtesten Werke, dem „Milchmädchen“ (ca. 1558–1559) aus der Sammlung des Rijksmuseums, finden sich die Schärfen und Unschärfen, die Weber als so „ungewöhnlich und einzigartig“ für die Zeit charakterisiert. Der Topf auf dem Tisch im Vordergrund und das Brot daneben wirken verschwommen, die zerbrochene Kruste deutet der Maler nur durch eine Vielzahl nebeneinander gesetzter gelbbrauner Punkte an. Selbst das Gesicht der jungen Frau scheint leicht außerhalb des Fokus’, durchsetzt von farbigen Flecken, das Rot der Wangen wie nachlässig verschmiertes Rouge – wohingegen der Nagel über ihrem Kopf an der Wand scharf zu erkennen ist. Stunden könnte man allein vor diesem Meisterwerk des gemalten Alltagslebens verbringen, in den Details schwelgen wie dem strahlenden Blau im Kleid der Magd und den furios gesetzten Glanzlichtern auf dem Rand des Milchkrugs. Bei eingehender Betrachtung stellt sich auch unweigerlich die für Vermeer typische Ruhe ein. Eine Stille so still, das man im Geiste die Milch aus dem Krug rinnen hört. Für eine Weile nehmen wir Platz am Tisch, schauen auf zur nun monumental wirkenden Magd, die ihre Gabe großzügig offeriert. Das Gemälde verwandelt sich in ein wortloses Zwiegespräch. Diese Magie wirkt selbstverständlich nur, wenn man wirklich ungestört direkt vor dem Bild stehen kann. Ein Glücksmoment, der sich im Realbetrieb der Ausstellung bei bereits 200.000 vorgebuchten Eintrittskarten nur sehr selten einstellen wird.
„Das Milchmädchen“ hat als ungekrönte Königin der Ausstellung einen eigenen Raum bekommen. Das erhebt die Magd sogar noch über die zweite weltberühmte Schöne in der Schau, das „Mädchen mit dem Perlenohrring“ (ca. 1664–1667), angereist aus dem Mauritshuis in Den Haag. Sie hängt über Eck ein paar Schritte entfernt von der zwischen 1666 und 1668 geschaffenen „Spitzenklöpplerin“ (verliehen vom Louvre). Letztere thematisiert, erneut im virtuosen Fokusspiel, die Tugend andachtsvoller Arbeit. Nur wer sich mit dem Oberkörper leicht nach vorne und über das obligatorische Abstandsgeländer hinweg beugt, erkennt die hauchfein gemalten Fäden zwischen den Händen.
„Das Mädchen mit dem Perlenohrring“ hingegen ist eine Tronie, ein anonymes Charaktergesicht, das in diesem Fall mit einer frei erfundenen, „exotischen“ Kostümierung ausstaffiert wurde, die dennoch kaum ablenkt von den wirklichen Hinguckern im Bild: den Glanzlichtern auf Lippen, Augen und dem schmückenden Ohrring. Kokett blickt die attraktive Frau ihrem Publikum entgegen und wer zurückschaut, fühlt sich plötzlich auf unsicherem Terrain: Was ist das bloß für ein diffus gemalter Mund, bei dem das Rot nahtlos ins Rosa überfließt? Auch scheint es, dass beim linken Nasenflügel die Konturen gar nicht da sind, sondern wir sie uns nur einbilden, um das Werk zu vervollständigen. Ist das ganze Gesicht nur eine einzige Fantasie?
Es scheint, als hätte Vermeer die Gabe besessen, die Gefühle seines Publikums ziemlich genau zu antizipieren und in seinen Kompositionen zu bedenken. Vielleicht ist das – neben dem hohen Grad an Illusionismus in den Werken – genau der Grund, weshalb wir uns in seinen Bildern so oft so willkommen, gelegentlich aber auch irritiert fühlen. Beim Gemälde „Soldat und lachendes Mädchen“ (ca. 1657–1658) aus der Frick Collection zum Beispiel hat Vermeer eine so extreme Perspektive gewählt, dass wir Betrachtende regelrecht an die Stuhllehne des riesenhaft und dominant wirkenden Mannes geklebt zu sein scheinen. Es ist ein unangenehmes Gefühl, derart in den Raum hinein gedrängt zu werden. In „Frau in Blau, einen Brief lesend“ (ca. 1662–1664) aus dem Rijksmuseum errichtet der Maler hingegen eine Barriere durch das düstere Mobiliar im Vordergrund und hält uns so von der Hauptfigur fern, deren Gesichtsausdruck zudem völlig unbestimmt und verschlossen ist. Was sie liest, was sie denkt, wir erfahren es nicht.
Im direkten Vergleich wiederum mit dem sehr ähnlich in Szene gesetzten „Brieflesenden Mädchen am offenen Fenster (ca. 1657–1658) aus Dresden, kann man jedoch schön erkennen, wie feinsinnig Vermeer die Farben einsetzte, um eine spezifische Stimmung in einem Gemälde zu erzeugen: Beim „Mädchen“ verleihen das warme Rot und das angenehme Grün der rahmenden Vorhänge dem Bild einen freundlich-positiven Charakter. Bei der Briefleserin fällt dagegen ein hartes, kaltes Licht in den von Blautönen dominierten Raum und scheint alles darin wie in Schock zu gefrieren. Zum mysteriösen Inhalt des Bildes gesellt sich also ein melancholisches Gefühl. Es macht – wie in so vielen Momenten in dieser Ausstellung – die Begegnung mit Vermeers Kunst zu einer wahrhaft tiefgründigen Erfahrung.