Vittore Carpaccio erzählte in seinen Bildern detailverliebte Geschichten. Nun widmet Venedig seinem großen Renaissancemaler eine Schau
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20.03.2023
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Erschienen in
WELTKUNST Nr. 210
Die Initiative des Vereins „Save Venice“, nach der Jahrhundertflut 1966 gegründet, ist es zu verdanken, dass neben dem Augustinus-Gemälde auch der 3,60 Meter breite „Drachenkampf des heiligen Georg“ grundlegend restauriert wurde. So sieht man die beiden Leinwände erstmals mit ihrer überwältigenden Tiefenschärfe, die offenbart, dass der Maler über eine präzise Kenntnis der Raum- und Figurengestaltung verfügte. In der Ausstellung im Dogenpalast wird dieses Können zwar anhand von zahlreichen Skizzen, Figurenstudien und Vorzeichnungen dargelegt, doch keines der Ölgemälde ist von vergleichbarer Qualität. In Washington sorgten die großartigen Werke aus der Scuola Dalmata für großes Aufsehen. Die New York Times titelte „Geheimnisse eines venezianischen Perfektionisten in Washington gelüftet“, verwies aber auch gleich darauf, dass er der Namensgeber eines berühmten Gerichts war. Anlässlich der Carpaccio-Schau 1963 benannte Giuseppe Cipriani in Harry’s Bar die Kreation aus hauchdünnem rohen Rindfleisch, Parmesan und Olivenöl nach dem Maler. Im Internet findet man heute unter „Carpaccio“ unzählige kulinarische Verweise, bevor zum ersten Mal der Künstler auftaucht. In Venedig verhält es sich anders, hier kennt und schätzt man Carpaccio als einen Geschichtenerzähler, der als Zeitgenosse und vermutlich auch Schüler der älteren und berühmteren Malerbrüder Gentile und Giovanni Bellini viele Werke geschaffen hat, die in Museen, Kirchen und auch in privaten Häusern hängen: Porträts, Heiligenbilder, Madonnen, biblische und mythologische Szenen und nicht zuletzt seine narrativen Zyklen für die Ausstattung der sogenannten „Scuole“, der karitativ tätigen Laienbruderschaften.
Neben dem Auftrag für die Scuola Dalmata ist der Ursula-Zyklus der berühmteste, aber Carpaccio wendete seinen akribischen beobachtenden Stil auch in Bildprogrammen für kleinere und weniger wohlhabende Gemeinschaften an, was die Ausstellung mit dem erstmals nach 2004 wieder zusammengeführten Gemäldezyklus für die Albanische Laienbruderschaft (1504–1508) vorführt. Die sechs Gemälde, heute in Museen in Venedig, Bergamo und Mailand, erzählen das Leben Mariens. Besonders anschaulich ist die in einem venezianischen Innenraum angesiedelte Geburtsszene, in der Anna in einem Alkoven auf die Neugeborene schaut, die von einer Amme gebadet wird. Neben der von niederländischen Vorbildern inspirierten Staffelung in die Bildtiefe ist die Rückenfigur im Bildvordergrund bemerkenswert: Dort sitzt im Halbprofil eine junge Frau in einer venezianisch anmutenden Tunika, die einen gelben Turban auf dem Haupt trägt und einen Verband rollt. Sie dient als Mittlerfigur zum Publikum und lenkt den Blick der Betrachtenden inmitten von zahlreichen Figuren, Tieren und Objekten – unter anderem einer Tafel mit hebräischen Schriftzeichen, die darauf hinweist, dass es sich um eine alttestamentarische Erzählung handelt – direkt auf das Kind und somit auf das Hauptgeschehen, die Mariengeburt.
Die Autorschaft des Zyklus wird im Katalog als „Carpaccio und Werkstatt“ angegeben, was eigentlich unnötig ist, denn es ist in der Kunstwissenschaft mittlerweile ohnehin unbestritten, dass der Maler ebenso wie seine Zeitgenossen eine größere Werkstatt betrieb, um verschiedene, parallel zu bewerkstelligende Aufträge erfüllen zu können. Zur Zeit der Entstehung des Marienzyklus arbeitete Vittore Carpaccio nicht nur an den großen Leinwänden für die Dalmatische Bruderschaft, sondern war auch mit dem weitaus prestigeträchtigeren Auftrag für die Sala del Maggior Consiglio, dem großen Ratssaal des Dogenpalastes betraut (beim Brand 1577 verloren). Die Mitarbeit von Gehilfen und Schülern erklärt, warum im Marienzyklus zahlreiche Wiederholungen von Figuren, Architekturelementen, Flora und Fauna erkennbar sind, welche auf Zeichnungen, großformatige Vorlagen und möglicherweise auch auf die Verwendung von Kartonagen zur Übertragung zurückgehen. Dass Carpaccio zur Finalisierung selbst Hand anlegte, zeigen einzelne herausragende Elemente der Geburtsszene, etwa die beiden Hasen – in der Renaissance Symbole für die Auferstehung und somit eine Antizipation der Geburt Christi –, die er offensichtlich als Blickfang in die Enfilade der geöffneten Türen setzte. Es genügte, die Gemälde als „Carpaccio“ erkennbar zu machen, um sie auf den Markt zu bringen.
Ein besonders faszinierendes Meisterwerk der Schau zählt zu den frühen Arbeiten und entstand um 1492/94 für einen privaten Kontext. Die Tafel gehörte vermutlich zu einer Klapptür und wurde zur legendären Ausstellung „Venedig und der Norden“ 1999 im Palazzo Grassi erstmals präsentiert. Offenbar im 18. Jahrhundert wurde sie für den Kunstmarkt zweigeteilt: Der untere Part („Zwei Damen“) befindet sich heute im Museo Correr in Venedig, die obere Szenerie („Angeln und Vogeljagd in der Lagune“) im Getty Museum in Los Angeles. Es war eine Sternstunde der Kunstwissenschaft, als man in den 1990ern aufgrund von Holzwurmspuren nachweisen konnte, dass diese beiden Gemälde zusammengehören – nachdem bei der Restaurierung der Getty-Tafel eine Lilie vor der Lagunenlandschaft deutlicher zutage trat. Diese konnte man der Vase am oberen Bildrand der venezianischen Tafel zuordnen, sodass die Komposition der zwei sitzenden, vor sich hin starrenden Frauen eine perspektivische Erweiterung erfuhr. Die Ergänzung um die in der Ferne jagenden Männer führte zu einer radikalen Umdeutung des Bildmotivs: Hatte man zuvor John Ruskins Identifizierung als Kurtisanen vorbehaltlos angenommen, so begann man nun, die Attribute der Venezianerinnen entsprechend einer Ehe- und Tugendsymbolik umzudeuten. Schließlich, so die Kostümhistorikerin Doretta Davanzo Poli, hätten entsprechend der Luxusgesetzgebung nur Damen der venezianischen Oberschicht das Privileg gehabt, weiße Perlencolliers zu tragen. Für die Interpretation des Bildmotivs als zwei wartende Ehefrauen, deren Männer in der Lagune jagen, sprechen aber auch die Ehe- und Treuemotive wie die Turteltaube, der Kiebitz und die Orange auf der Balustrade, während sich das weiße Taschentuch in der Hand der gelbgewandeten Dame als bonus amor, als Treuepfand, identifizieren lässt. Allein die Möglichkeit, dieses Gemälde wieder vollständig zu sehen, lohnt die Reise nach Venedig.
Carpaccio prägte einen eigenen Erzählstil und die für ihn typische Figurengestaltung, was ihn im ersten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts zu einem der gefragtesten Maler seiner Zeit machte. Damals war die Republik Venedig auf dem Höhepunkt ihrer Macht, denn sie erstreckte sich von Bergamo im Norden bis nach Zypern im östlichen Mittelmeer und wurde zu einem wichtigen Ort des Kulturaustauschs. Neben nordalpinen Malern wie Albrecht Dürer, der 1506 einige Monate in Venedig weilte, zogen auch aus dem Umland viele junge Maler in die Stadt, etwa Giorgione aus Castelfranco oder Tiziano Vecellio aus Cadore, die 1508 am Rialto die Fassade des deutschen Handelszentrums, dem Fondaco dei Tedeschi, mit Fresken ausstatteten. Die wenigen erhaltenen Fragmente der Fresken und Darstellungen auf Radierungen aus dem 18. Jahrhundert verdeutlichen, welche Wirkung die lebendige arte moderna an so prominenter Stelle ausgeübt haben muss. Tizians „Judith“ war ungleich dynamischer, kraftvoller, lebensnaher und gleichzeitig malerisch weicher als jede von Carpaccios Figuren.