Vittore Carpaccio erzählte in seinen Bildern detailverliebte Geschichten. Nun widmet Venedig seinem großen Renaissancemaler eine Schau
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20.03.2023
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Erschienen in
WELTKUNST Nr. 210
Während sich Giovanni Bellini im Spätwerk seinem Schüler Tizian annäherte und von der linearen Härte der Frührenaissance zur Weichheit der jüngeren Generation tendierte, blieb Carpaccio seiner alten Manier treu. Zwar behielt er seinen Status und wurde, sicher auch aufgrund seiner Mitarbeit im Dogenpalast, mit der Ausstattung der Stephans-Bruderschaft betraut, doch gegen Ende seiner rund vierzigjährigen Tätigkeit war er in Venedig weniger gefragt. Das Spätwerk, das in der Ausstellung im Dogenpalast ausführlich dargelegt wird, war vor allem für Auftraggeber im venezianischen Istrien bestimmt, wohin man die künstlerischen Tendenzen der Hauptstadt etwas zeitverzögert exportierte. Dieses Marktsegment erlaubte es Carpaccio, einen Malstil weiterzuführen, der zu diesem Zeitpunkt in Venedig aus der Mode gekommen war. Während Tizian in der Lagunenstadt bahnbrechende Werke wie die monumentale „Mariä Himmelfahrt“ für die Frari-Basilika schuf und die physische Präsenz von Michelangelos Wandbildern in der Sixtinischen Kapelle des Vatikans aufgriff, schuf Carpaccio kleinteilige, goldgerahmte Polyptychen für die Kirchen in Koper und Piran im heutigen Slowenien.
Dass er durchaus in der Lage war, seinen Malstil um das neue Kolorit zu erweitern, zeigt ein weiteres Meisterwerk in der Ausstellung: der geflügelte Löwe des Evangelisten Markus. Im Jahr 1516 für den Magistrat der Kämmerer geschaffen, befindet sich das Bild heute im Dogenpalast. Der Löwe ist nicht nur das Symbol des Stadtpatrons, sondern auch für die Republik Venedig selbst, die mit ihren Besitzungen im Mittelmeer und auf dem Festland Machtbasen zu Wasser und zu Lande hatte. Nach der abgewehrten Bedrohung durch die Liga von Cambrai war die Stellung der Serenissima gesichert, was Carpaccios Gemälde eindrücklich festhält. Denn im Hintergrund erkennt man nicht nur das Machtzentrum mit dem Dogenpalast, der Markusbasilika, dem Glockenturm, den beiden Säulen von San Marco und Todaro, der Piazzetta und dem Uhrturm, sondern auch San Nicolò am Lido, von wo aus der Weg direkt zum Mittelmeer führt. Bei der Restaurierung zur 1600-Jahrfeier Venedigs 2021 wurde ein weiteres Detail entdeckt, nämlich der Abdruck einer Tatze auf dem erdigen Grund. Dieser Kniff des Malers zeigt, dass sich der Löwe ebenso wie die Republik in Bewegung befand.
Leider fehlen in der Ausstellung wichtige Werke, die teilweise in der Washingtoner Schau zu sehen waren und die eine nähere Betrachtung von Carpaccios ikonografischer und stilistischer Auseinandersetzung mit seinen Zeitgenossen ermöglicht hätten, etwa „Die Grabbereitung Christi“ in Berlin oder die „Meditation über die Passion“ in New York. Trotzdem bietet die Venezianer Ausstellung einige neue Erkenntnisse dank der hierfür durchgeführten Restaurierungen. Besonders spannend bei der „Lesenden Muttergottes“ 1505 aus der Washingtoner Nationalgalerie, wo die Neuentdeckung von Fragmenten eines Christuskindes am linken Bildrand darauf schließen lässt, dass es sich um eine größere Komposition gehandelt haben muss. Carpaccio schuf also nicht, wie bislang vermutet, das private Porträt einer Lesenden, was in dieser Zeit unüblich gewesen wäre, sondern eine Muttergottes mit Kind.
Nach dem Besuch der Ausstellung im Dogenpalast sollte man keinesfalls die Bilderserie in der Scuola Dalmata versäumen, aber trotz des weggesperrten Ursula-Zyklus ist auch der Besuch der Gallerie dell’Accademia eine gute Ergänzung. Denn das Museum bietet einen einzigartigen Überblick zur venezianischen Malerei um 1500 und zudem zwei Altargemälde Carpaccios: „Die Präsentation Christi im Tempel“ und „Kreuzigung und Apotheose der 10.000 Märtyrer am Berg Ararat“. Diese Werke und nicht zuletzt ein vergleichender Blick auf das zukunftsweisende Freskenfragment Giorgiones vom Fondaco dei Tedeschi runden das Carpaccio-Festival wunderbar ab.